Leila ist in der zweiten Klasse, es sind die Achtzigerjahre in einer Kleinstadt in Niedersachsen, als ihr Vater aus dem Fenster springt – aus dem Fenster ihres Klassenzimmers im Erdgeschoss, um genau zu sein. Er landet, beobachtet von Leila und ihren Mitschülern, auf dem Schulhof und läuft einfach davon. Kurz zuvor hatte es an der Tür geklopft, heftig, und die Bilder, die Josef Ambacher daraufhin durch den Kopf geschossen sein müssen, breitet seine Tochter Jahrzehnte später vor ihrem inneren Auge aus: Ein Gewehrkolben, der auf eine Holztür einhämmert, eine verängstigte Familie, Soldaten, ein Zug. Steppe. Hunger. Tod.
Sabrina Janesch erzählt in ihrem Roman „Sibir“ vom Schicksal des zehnjährigen Josef, der im Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit anderen Russlanddeutschen nach Sibirien verschleppt wird. Sie erzählt vom Sterben, das leicht geht in der zentralasiatischen Steppe, mehr aber noch vom Überleben, ungleich schwieriger und nur zu schaffen durch Zusammenhalt, Widerstandsfähigkeit – und Sturheit. Diese Eigenschaften sind es, die der Familie Ambacher über zehn Jahre Verbannung hinweghelfen, bis sie – im Rahmen des eigentlich für Kriegsgefangene gedachten Adenauer-Chruschtschow-Abkommens – nach Deutschland ausreisen dürfen.
Doch angekommen in der Bundesrepublik fühlen sich die „Rückkehrer“ keineswegs zu Hause: Galten sie in der Sowjetunion als deutsche Faschisten, werden sie nun als „Russen“ misstrauisch beäugt und so bleibt ihnen die Gemeinschaft derer, mit denen sie ein gemeinsames Trauma eint: Entwurzelte wie sie, mit egerländischen oder wolgadeutschen Dialekten, die in ihren Kleinstadtgärten Obst und Gemüse anbauen, in ihren Wohnzimmern Samoware und Matrjoschkas auf die Regale stellen und sich von den „Normalos“ weitestgehend fernhalten.
In dieser Gemeinschaft und mit diesen Erinnerungen wächst Josefs Tochter Leila auf, die irgendwann den Fall der Mauer im Fernsehen sieht – nicht ahnend, was der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Ankunft sogenannter Spätaussiedler in ihrer kleinen Stadt für sie und ihre Familie bedeuten wird.
Es ist ein großes Kapitel deutsch-russischer, deutsch-sowjetischer Geschichte, das Janesch hier literarisch beleuchtet, und dessen Komplexität wird ihr Roman vollendet gerecht: Episoden aus Josefs Vergangenheit werden mitreißend erzählt, historische Verwicklungen erschließen sich wie nebenbei, Leilas Coming-of-Age berührt. Über all dem aber schwebt die Liebe, als in allen Zeiten unwahrscheinliches Konzept. Sie schert sich nicht um Krieg, Leid und Politik. Sie ist einfach. In Deutschland und in Sibirien.
Sabrina Janesch:
„Sibir“. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin, 352 Seiten; 24 Euro.