„Jedes Tagebuch wird in hundert Jahren wichtig, sagt Jünger, ob es von einem Küchenmädchen geschrieben wird oder von sonst wem. Jeder sollte ein Tagebuch schreiben. Na ja, ich mach es“, notiert Manfred Krug im Februar 1998 in seinem Diarium. Aber es brauchte keine hundert, sondern nur sechs Jahre, bis nach dem Tod des außerordentlich populären Schauspielers, Sängers und Schriftstellers (1937-2016) der erste Band seiner täglichen Eintragungen unter dem Titel „Ich sammle mein Leben zusammen“ veröffentlicht und zu einem Bestseller wurde. Dokumentiert sind darin die Jahre 1996/97. Mit „Ich bin zu zart für diese Welt“ folgt jetzt 1998 und 1999. Das pralle Leben. Ebenfalls auf Bestsellerkurs.
Was machen diese Gedankensplitter, Erlebnisberichte, Eindrücke, Beschreibungen bekannter und unbekannter Personen, persönliche Empfindungen, Alltäglichkeiten, Geständnisse, Liebeserklärungen, Sentenzen voller Hohn und Häme, Ironie und Komik zu einem so besonderen Lese-Erlebnis? Warum ist diese Mischung aus Banalitäten, Preisgabe von Gefühlen, Einschätzungen politischer Ereignisse wie dem Jugoslawienkrieg und jenem in Tschetschenien von „dem schmalen Jüngelchen Wladimir Putin“ geführten Vernichtungskampf so bedeutsam? Weil jede Zeile Manfred Krugs von sinnlicher Sprachkraft ist und weil uns in diesen Aufzeichnungen der geliebte wie auch gefürchtete, so vitale wie überhebliche „grobe Klotz“ in seiner wunderbaren Lebensnormalität begegnet.
Da ist die Schwäche, die ihn seit seinem Schlaganfall 1997 nicht mehr verlassen hat. Oder Krugs unerbittliche Kritik an den „Tatort“-Machern und dem Fernsehbetrieb überhaupt. Dazu gehört die Leidenschaft zur Musik und die Freude an neuen Studioaufnahmen. Ebenso die kabarettistische Wiedergabe von Begegnungen mit Schröder und Lafontaine. Und durchgehend die Liebe zur Familie, zu Ottilie, seiner Frau, den Kindern und Enkeln, dem gemeinsamen Kochen und Feiern. Und die große Verliebtheit in seine kleine außereheliche Tochter Marlene. Das Tagebuch erzählt ebenso von seiner nie endenden Trauer um den verstorbenen und geliebten Freund Jurek Becker.
Krugs Selbstkritik ist nicht ohne Witz: „Will ich immerzu recht haben? Nein. Ich habe recht.“ Oder: „Es gibt Momente, da bin ich stolz darauf, dass ich mit Proleten deutlich reden kann, weil ich selbst ein Prolet bin.“ Schließlich in einem Überschwang an Sentimentalität: „Ich passe nicht in diese Welt. Die Welt passt nicht zu mir.“ Dazu passen einzelne seiner morgendlichen Albträume, die er dem Tagebuch anvertraut: absurde Kurzgeschichten von Bitternis und eigenständiger Verrücktheit. Lebensbejahend, mit wachem Weitblick und nicht ohne Lust der Spontaneintrag des 62-Jährigen vom 8. Oktober 1999: „Dauernd wachsen diese bildschönen jungen Mädchen nach. Für wen? Für diese doofen, jungen Männer.“
Wer sich erinnern beziehungsweise wer erfahren will, wie diese letzten Jahre des Jahrhunderts waren: In Krugs Tagebüchern liegen sie offen vor uns. Klug, witzig, scharf und – wichtig. Ein Vergnügen voller Wehmut.
Manfred Krug:
„Ich bin zu zart für diese Welt. Tagebücher 1998-1999“. Mit einem Nachwort von Herausgeberin Krista Maria Schädlich. Kanon Verlag, Berlin, 301 Seiten; 24 Euro.