Theatermeister aller Klassen

von Redaktion

NACHRUF Trauer um den großen Intendanten und Regisseur Jürgen Flimm

VON SABINE DULTZ

Eine Generation tritt ab. Jetzt gilt es, einen ihrer Besten zu betrauern. Am Samstag starb im Alter von 81 Jahren Jürgen Flimm, der Theatermeister aller Klassen.

Es ist ein sonderbares Kuriosum, dass dieser Weltkünstler nach seinen Lehrjahren als Regieassistent an den Münchner Kammerspielen als Regisseur in München nicht mehr in Erscheinung getreten ist. Seinen öffentlichen Auftritt in der bayerischen Metropole, die sich doch viele Jahre als Mekka der Theaterkunst empfand, hatte der bekennende Protestant wohl zuletzt 2010: auf dem ökumenischen Kirchentag mit der Gestaltung der Bibelarbeit. Aber Flimm, dieser umtriebige Künstler, der karrieremäßig nicht aufzuhalten war, wirkte künstlerisch segensreich über viele Jahre quasi vor den Toren der Münchner Stadt, als Regisseur und Chef (2006-2010) der Salzburger Festspiele.

Geboren am 17. Juli 1941 in Gießen, aufgewachsen in einer evangelischen Arztfamilie im katholischen Köln, zeichnete ihn immer seine rheinländische, scharf-witzige Fröhlichkeit aus. Als Abiturient musste er sich zwischen zwei Berufszielen entscheiden: Kirche oder Theater. Er wählte Letzteres, weil er glaubte, das Theologiestudium sei viel zu schwer für ihn. Und er hatte richtig gewählt. Die Stationen seiner Laufbahn: Studium der Theaterwissenschaften in Köln, ab 1968 Regieassistent an den Kammerspielen, Intendant des Schauspielhauses Köln (1979-1985), Regisseur und Intendant des Thalia Theaters Hamburg, dem er zu Ruhm verhalf (1985-2000), Salzburger Festspiele, Leiter der Ruhr-Triennale, Intendant der Staatsoper Berlin (2010-2018), Opern-Inszenierungen an der Mailänder Scala, an Londons Covent Garden, der Wiener Staatsoper, New Yorker Met und 2000 sein Bayreuther „Ring“.

Wann aber trat der Regisseur Jürgen Flimm ins Bewusstsein der allgemeinen Theateröffentlichkeit? Das war 1979 in Köln. Ein erster Triumph: Kleists „Das Käthchen von Heilbronn“. In der Hauptrolle die sehr junge, gerade von Ostberlin in den Westen ausgereiste Katharina Thalbach. Ein unvergessliches Ereignis. Es begann der unaufhaltsame Aufstieg des Regisseurs Flimm, der als Intendant Künstler verpflichtete, die oftmals seinen eigenen Ruhm überstrahlten. Robert Wilson zum Beispiel, der mit „Black Rider“ dem Thalia Theater einen Welterfolg bescherte.

Jürgen Flimm war ein Kämpfer für das Theater, ein Mann des Publikums, das ihn liebte. Und das nicht nur wegen seiner meist sehr gelungenen Inszenierungen wie Tschechows „Platonow“ oder „Drei Schwestern“ („Die Flops habe ich natürlich verdrängt“), sondern weil er mit ihm zusammen focht für die Unabhängigkeit der Theater, für ihren gesellschaftlichen Stellenwert. „Die Kunst ist eine Art intellektuelles Beatmungsgerät“, sagte er einmal. Und damit meinte er speziell Schauspiel wie Oper. Dem unendlichen Kosmos der Musik war Flimm ebenso verfallen wie der Sprache der Dichter. Seine erste Oper inszenierte er 1978 in Frankfurt: Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“. Höhepunkte in Salzburg: „L’incoronazione di poppea“ von Monteverdi sowie Purcells „King Arthur“. In bester Erinnerung die Aneignung der Wiener Klassiker durch den Mann aus Köln, als Flimm Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger Raimunds „Bauer als Millionär“, Nestroys „Mädel aus der Vorstadt“ und Hofmannsthals „Der Schwierige“ (Kostüme: Karl Lagerfeld) inszenierte. Als Festspielchef rief er das erfrischende „Young Directors Project“ ins Leben und sorgte dabei für die internationale Entdeckung des lettischen Regisseurs Alvis Hermanis. Schließlich initiierte Flimm auch eine Art Modernisierung des „Jedermann“, indem er Christian Stückl als Regisseur für den Salzburger Klassiker engagierte.

Ein Theater-Allrounder wie Jürgen Flimm wurde mit vielen öffentlichen Ämtern betraut, darunter auch mit der Präsidentschaft des Deutschen Bühnenvereins. Der Höhepunkt seines reichen Theaterlebens aber war die Intendanz der Staatsoper Berlin, wo er acht Jahre lang, Seit’ an Seit’ mit Daniel Barenboim, die Geschicke dieses Hauses verantwortete.

Im Alter blieb Flimm von Krankheiten nicht verschont. 2013 erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich allerdings gut erholte. Und 2019 verunglückte er auf eigenem Hof unweit von Hamburg bei einem Ritt auf seinem Pferd Pavarotti. Es gelang ihm, wieder laufen zu lernen, zuletzt, am Stock gehend, sogar eine Premiere der Staatsoper zu besuchen, wo das Publikum ihn jubelnd begrüßte.

Den Salzburger Festspielen hatte Flimm je ein Motto vorangestellt. 2010, seine letzte Saison, war überschrieben: „Wo Gott und Menschen zusammenstoßen, entsteht Tragödie“. Er führte aus: „Wie Archäologen wollen wir eine Tür öffnen und hinabsteigen, um an die verschränkten Ursprünge, die Widersprüche unserer Geschichte und unserer Zivilisation zu erinnern. Spuren dessen, was wir auch noch heute sind, suchen, Erinnerungen aufspüren. Und zeigen, wie zeitlos, also aktuell die alten Themen sind: die der Tragödie.“

Die Theater müssen Trauer tragen. Das große Festspielhaus in Salzburg hat schwarz geflaggt. Und uns bleibt die Hoffnung, dass die neue Generation der Regisseurinnen und Regisseure sich Flimms künstlerisches Erbe zu Herzen nimmt, von ihm lernt und dem Theater eine neue Chance gibt.

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