Sind wir nicht alle irgendwie Paketboten? Weil ja bekanntlich jeder im Leben sein Päckchen zu tragen hat. Auf diesem Kalenderspruch-Niveau bewegen sich zwar nicht alle, aber leider zu viele Metaphern in Magdalena Schrefels Rührstück „Archiv der Tränen“, in dem tatsächlich ein Paketbote eine, ja, tragende Rolle spielt. Dass man ob solcher Kalauer Tränen lachen müsste, ist freilich genauso übertrieben wie die Behauptung, dieses zerfließende Auftragswerk fürs Bayerische Staatsschauspiel sei nur noch zum Heulen. Denn Regisseurin Elsa-Sophie Jach und ihr Team haben erkennbar Blut, Schweiß und Tränen investiert, um aus dem Text der 1984 geborenen Österreicherin, dem man die Schnittmuster des Schreibseminars anmerkt, eine zumindest ansehnliche Bühnenshow herauszukitzeln.
Und so erlebt man im Marstall des Münchner Residenztheaters eine fast schon überorchestrierte, aber recht effektvolle Uraufführung, die vom Video-Puppentheater über üppigsten Nebeleinsatz bis hin zu Tränendrüsen-drückender Musik alle Register zieht. Dem etwas halbseidenen Charakter des Textes gemäß, wird das Tränen-Archiv hier zur Rummelplatz-Attraktion: „Lacrimosa“ steht in Frakturschrift als bunte Neonreklame über der Rückwand, und davor hat Bühnenbildnerin Aleksandra Pavlović ein spiralförmiges Spiegelkabinett platziert.
Dementsprechend gehört auch das Personal, das hier auftritt, eindeutig zu einer Freakshow, denn die Archivarin (Pia Händler) trägt schwarz geschminkte Lippen zum fliederfarbenen Anzug, während ihr Assistent (Pujan Sadri) überraschend sportlich in kurzen Turnhosen aufläuft. Noch geschmackvoller ist nur das Outfit eines ulkigen Pärchens (Christoph Franken, Isabell Antonia Höckel), das ins Archiv hereinschneit und von Kostümbildnerin Bettina Werner in Fallschirmseide (oder was immer es ist) eingenäht wurde. Aber auch eine weitere Archivbesucherin (Evelyne Gugolz) und der besagte Paketbote (Thomas Reisinger) kommen kleidertechnisch kaum besser weg, wobei Letzterer auch noch einen riesigen rosa Boxsack in Tropfenform anzuliefern hat. Frei nach dem Motto: Es geht eine Träne auf Reisen… Durch solche gewollt knalligen Überzeichnungen wird der symbolistische Schwulst des Textes gnädig ins Ironische gebrochen, denn das Archiv der Tränen steht doch allzu bedeutungshubernd und unverbindlich zugleich für alles Leid, alle Wehmut, Trauer und Vergänglichkeit unseres Erdenwallens. Dabei gibt es schon Ansätze im Text, diesen Ort des (Nicht-)Geschehens, diese „Arche für den Schaum der Tage“ als hübsche surreale Skurrilität zu zeichnen. Etwa wenn man erfährt, dass die Öffnungszeiten des Archivs „erratisch“ sind, dass es Tränen „erster“ und „zweiter Ordnung“ aufbewahrt und dass das „Tränenklavier“, das dort klimpert, sich selber spielt.
Aber statt solche abseitigen Schnurren zu vertiefen und so ganz beiläufig zu obsessiver Dringlichkeit zu gelangen, bläht die Autorin ihre szenisch gerahmte Aphorismensammlung mit windigem Pathos auf. So erfahren wir tief beeindruckt, dass „jedem Anfang“ nicht wie bei Hesse „ein Zauber“, sondern „ein Ende“ innewohnt. Von da wäre es nicht mehr weit zu Michael Holm, der schon immer wusste, „Tränen lügen nicht“. Klar, dass am Ende kein Auge trocken blieb und das Premierenpublikum heftig applaudierte.
Nächste Vorstellungen
am 16. Februar sowie am 5., 29. und 31. März; Telefon 089/ 21 85 19 40.