Es hätte ein gemütlicher Familienroman werden können, das neue Buch von Ulrike Draesner, „Die Verwandelten“. Und ist es streckenweise auch geworden. Da wird gelacht und gelästert, einander geholfen und miteinander gestritten, es gibt Seitensprünge und Sehnsüchte, Eifersüchteleien und Zärtlichkeiten, naturgemäß Geburt und Tod; obendrein wird üppig gekocht, viel erzählt – und noch mehr verschwiegen.
Wenn man so im angenehmen Lesefluss ist, sich freut, dass Rechtsanwältin Kinga Schücking glücklich ist mit Adoptivtochter Flummy, mit ihrer überraschend entdeckten Cousine Dorota Dombrowska und mit der Annäherung an ihre Mutter Alissa – allerdings erst postum –, dann vergisst man einfach, was man doch gerade noch wahrgenommen hat: Das Motto, aus Ovids „Metamorphosen“ gewählt, tippt die Geschichte Philomelas an, jener vergewaltigten, verstümmelten, gefangenen Frau, die trotzdem den Verbrecher stellt; die Kapitelüberschrift „L wie Lebensborn“ (NS-Heime, in denen ledige Mütter ihre „arischen“ Kinder geschützt zur Welt bringen konnten) und den lyrischen Kapitelvorspann „Gesang der gezwungenen Kinder“ / „Gesang der gezwungenen Mütter“.
Das ist Draesners hohe Kunst. Sie verknüpft die dunkle Seite des Seins (und sie erspart uns Frauen wirklich gar nichts) so selbstverständlich mit der hellen, vitalen, wie das Leben selbst. Philomela, der ihr Peiniger die Zunge herausschnitt, webte ihr Schicksal als Bildgeschichte in den Teppich. Dieses „typische“ Frauenwerk setzt die Schriftstellerin in ihrem Text-Gewebe bewusst fort. Auch sie macht es möglich, dass sich die Verstummten äußern und dass sie gehört werden (Ulrike Draesner verweist im Nachwort auf den Bericht einer Leserin). Denn was Kinga, Doro, Alissa, deren Mutter Adele und Adoptivmutter Gerda (als Geist), Walla/Renate (Doros Mutter) und Doros Schwester Teréza rekapitulieren, überdenken, fantasieren, sich eingestehen, erfahren nur wir.
Aus dem frühen 21. Jahrhundert seilt sich der Roman gewissermaßen ab ins 20. Jahrhundert, um dann wieder im Jetzt zu landen. Obwohl Draesner beim Schreiben noch nichts vom russischen Krieg gegen die Ukrainerinnen, Ukrainer und die Demokratie wissen konnte, ist ihr neuer innovativer Historienroman (wie zuvor „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ und „Schwitters“) erschütternd aktuell und universell.
So liebevoll und frappierend sinnlich die Künstlerin gerade die Oder, die dortige Landschaft und die Stadt Wrocław, das alte Breslau, erschafft, so deutlich zeigt sie, wie Krieg und Massenvergewaltigung das Besondere, das Individuelle nivellieren. Überall auf der Welt versuchen Soldaten, Frauen auszulöschen, wie sie Orte zerstören.
Den langen Walla-Teil des Romans formt Draesner, Jahrgang 1962, deswegen zu einem sprachlich großartigen Denkmal der unbekannten Frau. Als Skulptur, analog zum unbekannten Soldaten, wurde ein solches nirgendwo errichtet – warum eigentlich nicht? Die Künstlerin nervt freilich nicht mit Trauer-Gebrauchskunst, sie wagt sich an bestes antikes Pathos, gestaltet es genauso, etwa in Euripides’ „Troerinnen“, mit stählerner Härte: wahrhaftige Kunst. Mit zugeschnürter Kehle und so tief berührt wie beeindruckt steht man vor Renates Tragödie, die sich in Walla verwandelt, um damit wenigstens eine (Über-)Lebens-Tragikomödie erzwingen zu können.
Doro, eines der Kinder der Kriegskinder, begibt sich am Ende des Romans auf Spurensuche ins moderne Wrocław. Was war mit den toten Brüdern im kommunistischen Polen? Mit der Mutter? Dabei erinnert sich die Tochter an ein Kindergespräch mit der Mama: „Da kam die Mutter von ihrem Kiosk mit einem weichen, korallenroten Buch zurück: ,Auf dem Mimosenzweig sitzt die Nachtigall, Philomela, und singt wunderschön‘, sagte sie. ,Schau mal hier.‘ Ich glaube, sie fügte noch etwas an. Etwas wie: ,Sie lebt. Verstehst du? Das ist ihr Mut.‘“
Ulrike Draesner:
„Die Verwandelten“. Penguin Verlag, München, 600 Seiten; 26 Euro.
Buchpremiere: Ulrike Draesner stellt ihren Roman heute, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter 0761/888 49 999 oder unter literaturhaus-muenchen. reservix.de.