Formvollendet

von Redaktion

Die Graphische Sammlung lädt in Tony Craggs schier unendlichen Kosmos

VON KATJA KRAFT

„Sie hätten mich vermutlich nicht besonders gemocht.“ Aggressiv sei er früher gewesen, erzählt Tony Cragg. Voller Wut auf die bestehenden Verhältnisse. Gewillt, sie irgendwie zu verändern. „Früher“, das heißt mit 19, 20. Ende der Sechzigerjahre, dieser „aufgewühlten Zeit“. 1949 wurde er in Liverpool geboren, als Sohn eines Luftfahrtingenieurs; ständig mussten sie umziehen, sieben Schulen hat Cragg besucht. „Es war gar nicht leicht, jedes Mal neue Freunde – noch wichtiger: neue Feinde zu finden.“ Sagt’s und grinst. Dann sieht Tony Cragg, heute 73 und einer der renommiertesten Bildhauer unserer Zeit, aus wie Christopher Lloyd als verrückter Professor in „Zurück in die Zukunft“. Cragg kann seine Augen genauso schön aufreißen. Und „Zurück in die Zukunft“, das könnte auch der Titel der Ausstellung sein, durch die man gerade mit ihm spaziert. Sie ist angesiedelt in der Graphischen Sammlung – was verwundert. Bei dem Namen Tony Cragg denken selbst die fleißigsten Museumsgänger ja erst einmal an irre futuristisch geformte Skulpturen. An Gewaltiges, das den Raum beherrscht und alle Blicke auf sich zieht. Nicht an zarte Grafiken, in Glas und Passepartout gefangen. Siehste, genau das ist das Schöne an Kunst: überrascht immer wieder. Dann jedenfalls, wenn ein Kurator so frei agiert wie Sammlungsdirektor Michael Hering – und ein lebender Künstler wie Tony Cragg ihm diese Freiheit lässt.

Fiel ihm nicht leicht, gesteht Cragg augenzwinkernd. „Aber stur wie Michael ist, hat er mich mit seinen Ideen überzeugt. Selbst als ich mich beschwert habe, dass er hier einen Studenten aus mir machen will. Die Auswahl der gezeigten Werke ist genau richtig so.“ Das sagt er mit Blick auf Arbeiten, die in seiner Studienzeit entstanden sind. Und die doch wichtige Schritte waren für die Werke, die er heute schafft. Zurück in die Zukunft.

Was Jimi Hendrix seine Gitarre, das war Tony Cragg immer auch der Zeichenstift. Sobald er irgendwo sitzt, fängt er an zu zeichnen. Besonders gern ohne Vorlage. Dann sei es ein Prozess wie mit 100 Kilo Ton: „Es gibt Millionen Formen, die man fertigen könnte. Genauso wie es Millionen Wege gibt, zwei Punkte mit dem Stift zu verbinden. Natürlich können Sie einfach eine gerade Linie ziehen. Oder Sie führen sie über das Blatt hinaus, einmal durch die Stadt, das Land, die Welt, durch das Universum und zurück auf Ihr Papier – zum zweiten Punkt.“ Mit diesem Satz ist die Philosophie, die hinter Tony Craggs Schaffen steht, auf poetische Weise eingefangen. Ob als wütender Student am Londoner Royal College of Art oder späterer Rektor der Kunstakademie Düsseldorf: Immer ging und geht es dem Wahl-Wuppertaler darum, die Eintönigkeit unserer auf schnell, billig und effizient getrimmten modernen Welt zu sprengen. Bei Streifzügen über die Deponien der Siebziger lagen sie Cragg vor Füßen: die immer gleichen Formen, die immer gleichen Farben. Seine Plastik „Spectrum“ (1985) erzählt davon, sie ist zusammengefügt aus Zivilisationsmüll. „Abbild gähnender Langeweile, entstanden durch ökonomische Zwangsläufigkeit.“ Ob Salzstreuer oder Saftflasche: Massenproduktion verbietet jede komplizierte Farb- und Formen-Spielerei. Cragg aber, der will spielen. Wenn die Welt ihm Schwein und Elefant hinstellt, „mach’ ich einen Schweinefant daraus. Gehen Sie in den Wald, schauen Sie sich die wunderschönen natürlichen Formen an. Und was macht die Wirtschaft daraus? Quadratische Industrieeinheiten.“

Aus alten Holzplatten hat Cragg in den Siebzigern und Achtzigern Werke geschaffen, vor denen man erst einmal selbst steht wie mit Brett vorm Kopf. Aber auch das ist Kunst: Augen auf, genau hinschauen, und mit einem Mal – verstehen. „Glas“ (1981) beispielsweise. Sieben Bretter, scheinbar willkürlich an die Wand gehängt. Wer aber den feinen Wachskreidelinien mit den Augen folgt, erkennt glasklar die Form. Zauber der Zeichenkunst. Wie sehr sie Bildhauern, Malern, Grafikern als Impulsgeber dient, wie sie Schöpfungskraft heraufbeschwört, lässt einen diese vielfältige Schau spüren. Wie uns kreatives Schaffen überhaupt rauszieht aus den immer gleichen Denkmustern. Tony Cragg beschreibt das so: „Wenn Sie einen Text schreiben, werden Ihre Gedanken mit jeder Überarbeitung klarer. Durch den Prozess des Schreibens, ob mit Stift oder Tastatur, entstehen Sätze, die viel bedeutsamer sind als das, was Sie vorher gedacht hatten. Die Auseinandersetzung mit dem Material erweitert unsere Möglichkeiten.“ Alles ist möglich? Warum denn nicht.

Bis 7. Mai

Staatliche Graphische Sammlung in der Pinakothek der Moderne; Di.-So. 10-18, Do. bis 20 Uhr.

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