Stimmungskanone – und vieles mehr

von Redaktion

NACHRUF Der Sänger Tony Marshall, der mit Schlagern berühmt wurde, ist mit 85 gestorben

VON ZORAN GOJIC

Das Schicksal ereilt Herbert Anton Hilger in einer Sauna. Da kommt er mit dem Musikproduzenten Jack White ins Gespräch, der ihm von der Idee erzählt, das Maori-Volkslied „Nau Haka Taranga“ auf Deutsch neu aufzunehmen. Die eingängige Melodie, charmanterweise ohne Urheberrecht, mit einem ebenso eingängigen Text müsse ein Hit werden. Hilger ist da schon über 30 und muss eine Familie ernähren, also lässt er sich darauf ein und nimmt unter dem Namen Tony Marshall das Lied als „Schöne Maid“ auf. Es gruselt ihn etwas, er ist ausgebildeter Opernsänger und versucht, als ernsthafter Chansonnier Karriere zu machen. Aber irgendwo muss auch Geld herkommen.

Nach eigenem Bekunden ist er bei der nächtlichen Aufnahme sturzbetrunken, um den Text zu ertragen, aber dennoch – oder vielleicht deswegen – wird die Single der große Sommerhit des Jahres 1971. Das Lied kann man noch mitgrölen, wenn man schon lange nicht mehr fahrtüchtig ist, und es eignet sich für Volksfeste ebenso wie für Karnevalssitzungen oder Silvesterfeiern. White hat wie so oft den richtigen Riecher, und aus Tony Marshall wird die „Stimmungskanone der Nation“. Die Platte geht angeblich gut drei Millionen Mal über den Ladentisch, auch in Österreich, Holland und Belgien. Marshall nimmt weitere erfolgreiche Titel auf, die „Holla Hopsassa“ oder „Tätärätätätätä“ heißen. Und Marshall gibt bei Auftritten duldsam den lustigen Badener, der so tut, als hätte er beim Singen genauso viel Spaß wie die Menschen, die ihm zuhören. Wie viele andere Sänger seiner Generation leidet er als gut ausgebildeter Musiker darunter, unter Wert gehandelt zu werden. Aber anders als andere verzweifelt er nicht.

Er kann die Familie ernähren, hat bei seinen Auftritten, die ihn bis nach Japan und Las Vegas führen, Spaß und kann mit Fug und Recht sagen: „In der Summe ist alles dufte gelaufen.“ Mit seinem exzentrischen Afro-Haarteil gehört er bald zum Gemeingut der Bundesrepublik. Auch als die Hits Ende der Siebzigerjahre ausbleiben, hält sich Marshall und tritt klaglos in allen Sendungen und bei allen Schlager-Events auf, die ihn buchen. Musik ist sein Broterwerb; dass er sich das mitunter schönfeiert, leugnet er nie. Er sei „eigentlich immer gut drauf“, lässt er wissen und erträgt später stoisch die Häme, die sich mitunter über ihn ergießt. In reiferem Alter feiert er insbesondere mit dem Musical „Anatevka“ Triumphe. Da darf und kann er zeigen, was er draufhat. Und doch: Er muss weiterhin mit Toupet und der „Schönen Maid“ über Land tingeln. Er bleibt lange genug dabei, um zu erleben, dass man seine Professionalität, seine Ausdauer und seine angenehme Art zu würdigen lernt. Die Populärkultur des neuen Jahrtausends mit ihrer spätpubertären Dauerironie und der Geringachtung des Handwerks der Unterhaltung bleibt ihm fremd, aber er beklagt das nicht. Marshall, seit mehr als 60 Jahren skandalfrei verheiratet und Vater dreier Kinder, wusste recht gut zu unterscheiden zwischen der echten Welt und dem Entertainment, das hat ihn wohl gerettet. Ein Verdienst seiner Frau, wie er oft betont. Und das Genießen des Lebens ist für den Atheisten nicht nur folgerichtig, sondern Verpflichtung.

Nun ist Tony Marshall, der über Jahrzehnte das Schlagergeschäft klaglos ertragen hat, nach zuletzt vielen gesundheitlichen Rückschlägen mit 85 gestorben. „Jeder Tag ist Jetzt-Zeit“, hat er in einer seiner letzten öffentlichen Äußerungen verkündet.

Der Sänger gab duldsam den lustigen Badener

Tony Marshall war über 60 Jahre mit Gabi verheiratet

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