Wie seine Stimme sich Raum eroberte, wie machtvoll, farbsatt und verführerisch sie war, das lässt sich heute kaum mehr ermessen. Aber Enrico Caruso hatte einen Vorteil: Er war phonogen. Das Frequenzspektrum seines Tenors passte perfekt zu dem, was damals aufnahmetechnisch möglich war (siehe Interview). Insofern lässt sich dank vieler Studio-Sitzungen seine Kunst zumindest gut erahnen. Seit Jahrzehnten profitieren die Plattenfirmen in immer weiteren Neuauflagen und Neuabmischungen. Bis hin zum Kuriosum, das als „The digital Album“ bei Sony erschien: Das heutige ORF-Symphonieorchester begleitet die aus anderen Aufnahmen destillierte Stimme der Legende. Eine CD ohne das übliche Grammofon-Rauschen und -Kratzen, das ist ein gewisser Vorteil. Doch zugleich klingt leider alles künstlich, als ob da ein Alien zu uns gebeamt wurde. Mehr noch: Carusos Zauber-Tenor wirkt verschmälert, gleichsam irgendwie zusammengeschoben.
Wer sich einen authentischeren Eindruck verschaffen will, muss teils erhebliche Nebengeräusche in Kauf nehmen. Und aufs Orchester verzichten: Die besten Platten sind seine ältesten, als er – nur vom Klavier begleitet – in den Trichter sang. „Opera Arias and Melodies“ (Warner) versammelt Aufnahmen, die zwischen 1902 und 1904 entstanden. Ein enorm breites Repertoire-Spektrum von Donizettis „Liebestrank“ über Verdis „Aida“ bis zu Leoncavallos „Pagliacci“. Fast mehr als die Expansionskraft der Stimme verblüfft, wie beweglich sie ist in den locker geschlenzten Verzierungen etwa in Verdis „Rigoletto“. Zu hören ist tatsächlich, wie sich alter Belcanto-Stil mit robustem Verismo vermählt. Den wohl größten Schatz bietet die Sammlung „The Complete Recordings“ (Naxos). Auf zwölf CDs sind Arien, Lieder und Opernszenen aus den Jahren 1902 bis 1920 versammelt. Manchmal begleitet vom Klavier, manchmal von einem Mini-Ensemble: Klassische Orchesterbesetzungen konnte man damals nicht vor dem Aufnahmegerät versammeln. Eine Wunder-Box mit ausgesprochenem Suchtpotenzial. MARKUS THIEL