Ausverkauft, innerhalb von 24 Stunden. Restkarten an der Abendkasse. Da wird man am 5. und 7. Mai in Wiesbaden aber sehr viel Glück brauchen: Anna Netrebko debütiert als Abigaille in zwei konzertanten Aufführungen von „Nabucco“, und die Rechnung des Hessischen Staatstheaters scheint aufzugehen. Ein Honorar von 100 000 Euro für die politisch umstrittene Sopranistin will man dort nicht bestätigen, betont aber, dass die Internationalen Maifestspiele der Landeshauptstadt mit ihrem Engagement Gewinn machen, sollte die Auslastung höher als 85 Prozent liegen.
Ökonomisch ist man demnach schon auf der sicheren Seite. Allerdings tobt derzeit bundesweit ein Anti-Staatstheater-Shitstorm (wir berichteten), in dem fast untergeht, dass ursprünglich offenbar noch ein anderer Problemkünstler eingeladen war: Teodor Currentzis. „Da Herr Currentzis bei den Internationalen Maifestspielen 2023 nicht dirigiert, sieht die künstlerische Leitung hier keine Notwendigkeit, dazu Fragen zu beantworten“, heißt es aus der Pressestelle.
Inoffiziell wird die Einladung längst bestätigt, und wenn man die Debatte um den exzentrischen Dirigenten mit den guten Russland-Beziehungen ein wenig verfolgt hat, klingt auch ein mutmaßlicher Grund für seine Absage plausibel: Im Vorwort zum Gesamtprogramm der Festspiele wendet sich der Intendant Uwe Eric Laufenberg gegen die „Niedertracht von Herrschern wie Putin“.
Die Maifestspiele, die sehr stolz darauf sind, nach Bayreuth das zweitälteste (Opern-)Festival zu sein und den kaiserzeitlichen Repräsentationswillen bis in die jüngste Zeit mit paradierenden Polizeipferden fortgeschrieben haben, sind 2023 nicht weniger als „allen politischen Gefangenen in dieser Welt gewidmet“. Für das Miteinander im Kampf gegen die Unterdrückung will der Intendant „alle guten und engagierten Menschen“ einspannen. Dass Netrebko die richtige Besetzung in dieser Allianz ist, wird jedoch von der Stadt Wiesbaden, die den Löwenanteil der Zuschüsse im Zwei-Millionen-Etat trägt, unisono mit dem Bundesland Hessen bestritten. Man möchte kein falsches Signal in Richtung Ukraine senden: Seit Januar steht die russische Sopranistin auf einer Sanktionsliste des Landes. Auf dieser leistet ihr zum Beispiel Valery Gergiev Gesellschaft, der einstige Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Netrebko gilt ebenfalls als Putin-Unterstützerin und hat sich 2014 auch mit Separatisten gezeigt. Trotz ihres im März 2022 veröffentlichten Statements gegen den Krieg bleibt die Sängerin für Vadym Kostiuk, ukrainischer Generalkonsul in Frankfurt, „das Gesicht des Kreml“. Mittlerweile hat sich sogar der Ex-Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, mit einem „kreativen Vorschlag“ auf Twitter gemeldet: Stadt und Land sollten Laufenberg das Vertrauen entziehen.
Der Intendant, der sich in der Pandemie bereits mit kuriosen Videobotschaften als Freiheitskämpfer in Szene gesetzt hat, besteht aber auf der Kunstfreiheit und möchte sich, durchaus nachvollziehbar, nicht von der Politik hineinreden lassen. Die Glaubwürdigkeit seines Einsatzes für globale Menschenrechte gerät allerdings kräftig ins Wanken, wenn er bei der Programmvorstellung der Maifestspiele das hohe Lied der Pressefreiheit anstimmt, um kurz darauf Journalisten abzukanzeln („Auf Quatsch muss ich nicht antworten“) und den Mund zu verbieten. Der rüde Ton kommt nicht überraschend: 2020 hatte Laufenberg, der die Staatstheater-Homepage und Pressekonferenzen auch schon mal als Medienpranger nutzt, einen Kritiker als „Parasit“ beleidigt.
Nicht weniger bedenklich ist der Umgang mit ukrainischen Ensembles, die zu den Maifestspielen eingeladen waren und nun abgesagt haben. Offenbar hatte man zumindest das Taras-Schewtschenko-Theater aus Charkiw, mit 2000 Euro (sic!) Gage für die komplette Truppe (zuzüglich einigen Übernachtungen) deutlich günstiger als Netrebko, gar nicht über das Engagement der Sängerin informiert. Bei der Programmvorstellung wurde Pussy Riot stolz als Ersatz für das Verdi-Requiem mit dem Ukrainischen Nationalorchester angekündigt. Kurz darauf meldete sich die Protestgruppe, deren Mitglieder in Russland in Haft waren und nun eine „provokative Guerilla-Punk-Performance“ beitragen sollten, empört auf Twitter: Man sei nicht über Netrebkos Auftritt informiert worden – aus Solidarität mit der Ukraine fülle man natürlich nicht die Orchester-Lücke. Weitere Misstöne und Proteste sind zu erwarten. „Va, pensiero“, der auf goldenen Schwingen fliegende Freiheitsgedanke des Gefangenenchors aus „Nabucco“, Motto der Festspiele, könnte im Mai ziemlich zerzaust in Form eines gerupften Huhns auf die Bühne humpeln.