Voller Tatendrang

von Redaktion

Die Philharmoniker unter Lorenzo Viotti interpretieren Mahler

VON TOBIAS HELL

Es ist erschreckend, wie das Leben manchmal die Kunst einholt. Viele werden sich noch an die beklommene Stimmung vor einem Jahr in der Isarphilharmonie erinnern, als am Tag des Einmarsches der russischen Truppen in die Ukraine ausgerechnet Schostakowitschs mit Stalin abrechnende Sinfonie Nr. 10 im Programm der Philharmoniker auftauchte. Ähnlich ungeplant, aber leider nicht minder passend war nun zum Jahrestag an gleicher Stelle Mahlers Sechste angesetzt, die „Tragische“. Eingeleitet von einer Schweigeminute, die den Opfern des russischen Angriffskriegs, aber auch den Toten der türkisch-syrischen Erdbebenkatastrophe gewidmet war.

Im Anschluss an diesen gerade für die persönlich betroffenen Mitglieder der Philharmoniker sichtlich nicht leichten Moment tat Dirigent Lorenzo Viotti genau das Richtige und stürzte sich voller Tatendrang in den aggressiv vorwärts marschierenden ersten Satz. Nahtlos daran anknüpfend das grotesk dahintänzelnde Scherzo, bei dem der Dirigent Mahlers Anweisung „wuchtig“ beim Wort nahm, aber immer wieder auch versteckte Details der kontrastreich instrumentierten Partitur freilegte. Das galt vor allem für die feinsinnig agierenden Holzbläser und die majestätisch souveräne Blech-Fraktion.

Eine abfallende Spannungskurve war dagegen im Andante zu vernehmen, bei dem angesichts der breit gewählten Tempi zuweilen der lange Atem zu fehlen schien. Im letzten Satz – dem mit den berüchtigten Hammerschlägen – war Viotti wiederum ganz auf Effekt getrimmt. Ein Zugriff, der seine Wirkung nicht verfehlte, jedoch längst nicht alle emotionalen Tiefen und tragischen Untertöne auslotete. Aber Mahler ist bekanntlich ein Komponist, der viele Fragen stellt, auf die sich im Laufe einer Pultkarriere immer neue Antworten finden.

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