Es gibt Begebenheiten im Leben, die sind so gravierend und massiv, dass sie alles unwiederbringlich in ein Davor und ein Danach teilen. Das gilt auch für die Ereignisse dieses heißen Sommers 2014, den die junge ukrainische Medizinstudentin Olga in ihrer Heimatstadt Odessa verbringt. Mal mit dem sie verlässlich anschmachtenden Kommilitonen Radj am Strand. Mal mit dem Musikstudenten und On-Off-Freund Sergej. Mal mit Freundin Mascha und vor allem mit ihrer eigenen, zahlreich auftretenden Familie inklusive des alle Angehörigen wenig subtil manipulierenden Großvaters.
Nur seinetwegen studiert die jüngste, ansonsten vom Opa wenig geschätzte Enkelin Olga beispielsweise Medizin. Mit wenig Begeisterung und ähnlich wenig Erfolg. Wovon in der Familie aber niemand etwas ahnt. Denn wie auch ihre Verwandten beherrscht es Olga längst perfekt, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Ausgerechnet der despotische Opa mit seinem Lebensmotto „Familie, Familie und nochmals Familie!“ sorgt dann überraschend für heftige innerfamiliäre Verwerfungen, nachdem sein Jugendfreund David aus New York bei einem Besuch sorgsam gehütete Geheimnisse ausplaudert.
Sehr elegant verschränkt die in Odessa geborene und heute in Berlin lebende Irina Kilimnik in ihrem bemerkenswerten Romandebüt die Krisen bei Olga daheim und in ihrem Liebesleben mit der sich bedrohlich verändernden politischen Situation in der Ukraine jener Monate. Die von Russland im März desselben Jahres annektierte Halbinsel Krim ist nicht weit entfernt.
Die ostentative Gleichgültigkeit der Ukrainer bekommt in diesem Frühsommer zunehmend Risse: „Auf der Deribasovskaja-Straße herrscht trotz der jüngsten Ereignisse eine ausgelassene Stimmung. Touristen mit Selfiestangen, Kaffeeterrassen, die mittlerweile fast den gesamten Bürgersteig in Anspruch nehmen und die Odessiter in Rage versetzen, eine Schlange vor der französischen Konditorei, die vor einem Jahr aufgemacht hat und bereits in jedem Reiseführer steht…“ In der Straßenbahn streiten sich derweilen die Fahrgäste: Alles sei Putins Schuld, schreit die Dame. „Jetzt will er sich auch noch unsere schöne Odessa schnappen. Aber nichts da!“
Sehr plastisch, mit großer Leichtigkeit und viel Humor erzählt Kilimnik eine Familiengeschichte, in der Komödie und Tragödie ganz dicht beieinander liegen. Dank der wunderbar lebensnah gezeichneten Charaktere steckt man sofort mittendrin in diesen Machtkämpfen des alten Patriarchen mit seinem ausschließlich aus Frauen verschiedener Generationen bestehenden Clan. Man bewundert die Beharrlichkeit des Großvaters beim Durchsetzen seiner Wünsche ebenso wie Olgas Mut, sich endlich dagegen zu stemmen. Noch mehr ist allerdings Irina Kilimniks Sensibilität zu bewundern, neben den komplexen Figuren auch noch die kostbare, fragile Vergänglichkeit des Alltags einer Großstadt durchschimmern zu lassen.
Irina Kilimnik:
„Sommer in Odessa“. Verlag Kein & Aber, Zürich, 288 Seiten; 24 Euro.