Vielleicht bist du in diesem Moment eine abgearbeitete Mutter, Ehefrau, Waschsalon-Betreiberin. Aber vielleicht kannst du morgen schon etwas ganz anderes sein. Möglicherweise bist du’s längst, in einem anderen Universum. Ein Star im Blitzlichtgewitter! Eine Kung-Fu-Meisterin! Eine Königin! Ach, es ist ein irrer Traum, den Daniel Kwan und Daniel Scheinert in ihrem atemberaubenden „Everything everywhere all at once“ träumen. Wer sich auf dieses Gemisch aus Science-Fiction, Fantasy, Martial Arts und Hollywood einlässt, wird einmal komplett durchgewirbelt, mitsamt des bisherigen Lebensentwurfs. Völlig aufgewühlt steht man dann vorm Kino und denkt sich: Was wäre wenn – man jetzt einfach rüberhüpfen würde in eine alternative Version seiner selbst?
Und bevor das fiese skeptische Stimmchen im Kopf wieder übernehmen und einem einreden kann, dass grundlegende Veränderungen nur in Filmen möglich sind, hüpft einer der sympathisch schrägen Vögel aus „Everything everywhere all at once“ am Sonntagabend auf die Bühne der 95. Oscar-Verleihung. Und erklärt unter Tränen in einer der wenigen berührenden Reden dieser Gala, dass aus Fantasie tatsächlich Wirklichkeit werden kann.
Er hat’s ja selbst erlebt: Ke Huy Quan, heute 51 Jahre alt und in diesem Moment vor aller Welt mit dem Oscar als bester Nebendarsteller geehrt, ist als Kind mit seiner Familie aus Vietnam in die USA geflohen; lebte ein Jahr im Flüchtlingslager; hat sich im wahren Sinne durchgekämpft, mit zwölf erreichte er den schwarzen Gürtel in Kenpo-Karate. „Meine Reise hat auf einem Boot begonnen, jetzt stehe ich auf dieser Bühne. Man sagt, so etwas passiert nur in Filmen, jetzt ist es mir passiert. Das ist der amerikanische Traum!“, ruft er überwältigt gegen 1.15 Uhr deutscher Zeit in den Saal des Dolby Theatre Los Angeles.
Und klar stehen dort jetzt alle auf. Denn schöner hätte diese Szene kein US-amerikanischer Regisseur inszenieren können. Weil: Ke Huy Quan spielt das nicht, das ist echte, tiefe Dankbarkeit. Gegen diese Worte wirkt die spätere Dankesrede von Jamie Lee Curtis, die als beste Nebendarstellerin für denselben Film ausgezeichnet wird, leider wieder wie typisches aufgesetztes Hollywood-Pathos. Ke Huy Quan hingegen verfällt man von Sekunde eins an. Wenn er dann noch mit hinreißendem Lächeln hinzufügt „Meine Mutter ist 84 Jahre alt und schaut von zu Hause aus zu. Mama, ich habe gerade einen Oscar gewonnen!“, ist es um einen geschehen. Mein Gott, was für ein Beginn.
Müttern wird in dieser Nacht überhaupt sehr häufig gedankt. So emotional wie am Anfang bleibt die Gala zwar nicht, zuschauen tut man trotzdem gern. Statt auf lustige Aktionen mit dem Publikum wie etwa einst Ellen DeGeneres (legendär: ihre Pizza-Bestellung für die Stars samt gemeinsamem Selfie) setzt Jimmy Kimmel, der die Gala das dritte Mal leiten darf, auf eine unaufgeregt-amüsante, konzentrierte Moderation. Hübsche Spitzen gegen Will Smiths Ohrfeigen-Attacke auf Kimmels Vorgänger 2022, Chris Rock, bringt er genüsslich: „Die Oscars werden diverser: Wir haben Nominierte aus jeder Ecke von Dublin. Die Gefahr einer Schlägerei auf der Bühne ist also gestiegen.“ Oder gegen die beiden Abwesenden James Cameron und Tom Cruise: „Ausgerechnet die zwei, die uns ständig dazu aufgefordert haben, wieder in die Filmtheater zu gehen, kommen heute Abend nicht ins Filmtheater.“ Schlechte Verlierer eben. Man munkelt, dass Cruise es der Academy nicht verzeihen kann, ihn nicht als besten Hauptdarsteller für seinen Auftritt in „Top Gun: Maverick“ nominiert zu haben. Dabei war das die richtige Entscheidung in diesem im Grunde schwachen Kinojahr.
Brendan Fraser gönnt man den Preis stattdessen von Herzen. Noch so eine Kämpfer-Geschichte: Der einstige „Mumie“-Star litt – wie die Hauptperson, die er in „The Whale“ spielt – an Depressionen, war zuletzt von den reichweitenstarken Bildflächen verschwunden; und steht nun wie vom Goldjungen am Kopf getroffen auf der Bühne. So sieht Fassungslosigkeit vor Glück aus.
Für den besten Schnitt hätte eigentlich John Travolta geehrt werden müssen. Er muss schon heftig auf die Tränendrüse drücken, um seinem operierten Gesicht irgendeine sichtbare Regung abzuringen. Nach dem Motto: Kann Spuren von Gefühlen enthalten. Mit wässrigen Augen leitet er die Trauerminute für die Verstorbenen des Jahres 2022 ein, darunter seine einstige Filmpartnerin Kirstie Alley (1951-2022).
Einer der stärkeren Beiträge 2022 war Sarah Polleys „Women talking“. Charmant bedankt sich die 44-Jährige, die für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet wird, bei der Academy dafür, „dass Sie sich nicht haben abschrecken lassen von den Wörtern ,Women‘ und ,talking‘“. Polley kommt aus Kanada. Und ist damit weiteres Beispiel dafür, dass das Ziel der Oscars, diverser zu werden, mehr und mehr Wirklichkeit wird. Die Preise gehen heuer an Inder und Chinesen, Deutsche und Mexikaner, Briten und Taiwanesen, Iren und Afroamerikaner. An Männer und Frauen aus der ganzen Welt.
Wie Michelle Yeoh. Auch sie wird für einen Part in „Everything everywhere all at once“ geehrt, als beste Hauptdarstellerin sticht sie damit gar die brillante Cate Blanchett aus (deren Film „Tár“ man doch auch nur ihr zuliebe bis zum Schluss durchgehalten hat). Yeoh knüpft gegen Ende wieder am Anfang des Abends an. Wenn sie – Malaysierin chinesischer Abstammung – wie ihr Kollege Ke Huy Quan mit Blick auf den Oscar in ihrer Hand betont: „Dies ist der Beweis dafür, dass große Träume wahr werden können.“ Und mit einem Lächeln fügt die 60-Jährige hinzu: „Und meine Damen, lassen Sie sich von niemandem sagen, dass Sie Ihre besten Jahre schon hinter sich haben. Gebt niemals auf!“