Russland in der Endlosschleife

von Redaktion

PREMIERE „Boris Godunow“ am Tiroler Landestheater ohne Aktualisierungsdruck

War das vielleicht Stalin? Der Schnauzer würde passen. Aber wer sind die anderen Führer und ernsten Männer, die auf aufgeschlagene, leere Zeitungen einer Truppe von Business-Männern projiziert werden? Bevor das große Grübeln einsetzt, ist die Szene schon wieder vorbei. Weil, so signalisiert der ganze Abend, es nicht wichtig ist, zumindest nur mittelbar. Aufstieg und Fall eines Zaren, alles mit Blut erkauft, das provoziert schon genug Fingerzeige, da muss keiner mit der „Tagesschau“-Keule kommen. Vor einigen Monaten sah sich die Mailänder Scala mit der Kritik konfrontiert, warum sie in diesen Zeiten ausgerechnet Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ spiele. Und wenn, so keifte es aus den Empörungsblasen, solle sie sich gefälligst in ihrer Inszenierung dazu verhalten.

Am Tiroler Landestheater ist das kein Thema. Wobei Thaddeus Strassberger, Regisseur, Ausstatter und Video-Mann in Personalunion, die Aktualität nicht ausspart, sich aber von ihr nicht unter Druck setzen lässt. Vor Beginn verkündet eine fiktive sowjetische Nachrichtensendung den Tod Feodors I., Schlagstockmänner drängen das Volk zurück, Nachfolger Boris trägt schmucken Uniform-Samt jüngeren Datums. Strassberger spielt hier mit den Zeitebenen, historischen Versatzstücken und manchmal auch mit Klischees. Mönch Pimen, Chronist der Reichsgeschichte, haust auf einem Stapel aus Riesenfolianten, als sei’s aus einem russischen Märchenbilderbuch. Und alles passiert vor und neben einer goldenen Architektur, ein drehbarer Kubus, mal Kreml, mal Projektionswand.

In diesem Russland, so wird vorgeführt, hat sich wenig verändert. Strassbergers Stilmix destilliert Kontinuitäten heraus. Die Macht der Kirche ist ungebrochen. Und die der mächtigen, intriganten Häuflein, die um die jeweiligen Herrscher schleichen, sowieso – vielleicht bekommt das der aktuelle bald zu spüren.

In Innsbruck wird wie gerade fast überall die Urfassung des „Boris“ von 1869 aufgeführt. Mussorgskys sperrige, avancierte, nicht später durch Kollegen geglättete Instrumentation ist zu erleben. Aber vor allem die Konzentration des Dramas auf die Zentralfiguren. Zwar spielt das Volk mit mächtigen Chören eine Hauptrolle. Doch die Charaktere können sich stärker herausschälen – hier der großzügige, später geistig angegriffene Zar Boris, auf der anderen Seite Intrigant Schuiski und der Mönch Grigori, der sich für den – eigentlich ermordeten – rechtmäßigen Thronfolger Dimitri ausgibt.

Dass es dabei ohne Pathos und Statuarik nicht abgeht, liegt in der Natur des Werks. Wo Godunows Geschichte nur in Schlaglichtern erhellt wird, ist der psychologisch durchgeformte Bogen kaum möglich. Damit das funktioniert, braucht es Personal mit Ausstrahlung. Und über das verfügt das Tiroler Landestheater. Angefangen vom jugendlichen Ivo Stanchev, der die Titelrolle in sonores Dunkelgrau färbt, über Lukasz Zal¸eski als ein klischeebefreiter, endlich mal nicht tenoral keifender Schuiski bis zu Florian Stern, der den Grigori als auch vokal agilen Halbstarken gibt. Joachim Seipp dreht als Wandermönch Warlaam mächtig auf. Und für den Gottesnarren hat sich Strassberger Faszinierendes ausgedacht: halb Clown, halb Marionette, ein weißes, manchmal wie ins Hochzeitsgewand verschnürtes Wesen, das das Volk mit roten Schnüren hinter sich herzieht – und später daran zwecks Verehrung aufgehängt wird. Dale Albright macht daraus eine so eindrückliche wie rätselhafte Studie.

Erstmals wird am Tiroler Landestheater der „Boris“ gestemmt. Auch Dirigent Oliver von Dohnányi ist es zu danken, dass dabei das Dach des Landestheaters nicht wegfliegt. Wucht und Imponiergesten der Partitur, so hört man, müssen nicht gleichbedeutend sein mit Phonstärke. Viele Details der Instrumentierung treten hervor, die Massivität der üblicherweise größeren Besetzung wird beim Tiroler Symphonieorchester nicht vermisst. Überhaupt kommt es zu sehr klangbewussten Mini-Momenten, die manchmal mehr über die dramatische Situation sagen als die große Ensemble-Walze.

Die Premiere wird vom Publikum mit langem, nicht überschwänglichem Beifall quittiert. Was kein schlechtes Zeichen sein muss: „Boris Godunow“ versickert wie nihilistisch. Mussorgsky und Vorlagedichter Puschkin verhandeln hier eine Endlosschleife, den ewigen, verhängnisvollen Machtkreislauf eines Riesenreichs. Ohne Aussicht auf Besserung, wie wir gerade erfahren.

Weitere Vorstellungen

am 30. März, 1., 14., 23., 26., 28. April sowie 7., 10. und 12. Mai; Telefon 0043/512/52 07 44.

Dramatik muss nicht gleichbedeutend sein mit Phonstärke

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