Man plant zum Beispiel eine Asienreise. Bei der Flugbuchung der Blick in den Reisepass: Och, nee, abgelaufen. Wie nervig. Stimmt schon, so ein Tag im Wartesaal des KVR zwecks Ausweisverlängerung kann mühsam sein. Aber ist ein Witz gegen das, was Menschen erleiden, die gar keinen Ausweis haben.
Man kommt sich ein bisschen schäbig vor angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der man dieses hohe Gut – einen Pass – behandelt, mitunter unbeachtet ablaufen lässt. In 127 Länder kann man als deutscher Staatsbürger dank des weinroten Heftchens visumfrei reisen, in 46 weitere mit Visum. Zum Vergleich: Ein Bürger Afghanistans erhält nur in 38 Länder ohne zusätzliche Hürden Zutritt.
Vielleicht erinnert einen der monumentale Block, der seit gestern in der Rotunde der Pinakothek der Moderne steht, deshalb zuerst an einen Batzen Geldscheine, akkurat gestapelt. Mindestens so wertvoll ist das, was der chilenische Künstler Alfredo Jaar hier mithilfe des Architekturmuseums-Teams aufgeschichtet hat. „Zehn Stunden lang haben wir zu zehnt eine Million deutsche Pässe in dem gläsernen Cube angeordnet“, erzählt Andres Lepik. Seit seinem Amtsantritt vor rund zehn Jahren hat er als Leiter des Architekturmuseums der TU die politische Dimension von (Bau-) Kunst im Blick. Bemüht sich darum, gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen. Nicht nur die der westlichen Welt, immer global gedacht; immer über den eigenen goldenen Tellerrand hinaus.
Im vierten Jahr des Rotundenprojekts ist nun nach den anderen drei in der Pinakothek der Moderne beheimateten Museen Lepiks Haus an der Reihe, für mehrere Monate ein Werk im Foyer zu platzieren. Explizit dankt Lepik beim Pressetermin dem Förderverein PIN.Freunde, der das Werk unterstützt hat, ohne überhaupt zu wissen, worum es darin geht. „Bis heute hat niemand außerhalb unseres Teams Titel oder Inhalt erfahren. Wir wollten ein überraschendes Zeichen setzen.“
Das ist ihnen gelungen. Eine Million selbst gedruckte (Wie? Wo? Der Chef schweigt grinsend) Pässe. Sie stehen für eine Million Menschen, die während der Flüchtlingskrise 2015 nach Deutschland kamen. Alfredo Jaar kennt sich aus mit der Migrationspolitik der Deutschen und Europäer. Er hat ein Jahr lang in Berlin gelebt, nicht in irgendeinem, sondern: 1990. Als er ankam, sah er, wie Türkinnen und Türken als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. „Als sich die Mauer öffnete, wurden die einstigen DDR-Bürger zu Bürgern zweiter Klasse – und die gebürtigen Türken zu Bürgern dritter Klasse.“ Flüchtlingsheime brannten, Fremdenhass waberte durchs Land. Jaar verfolgt seitdem „mit Schrecken“, wie Europa weiter alles tut, Menschen in Not abzuwehren.
Eindringlich erinnert er daran, dass die größten Flüchtlingslager in der Türkei liegen. Bezahlt von der EU, damit Männer, Frauen, Kinder ja hübsch dort bleiben. „Keiner in der EU folgte der Genfer Konvention. Doch dann: der Ukraine-Krieg. Und auf einmal öffnete Europa seine Arme. Selbst faschistische Länder wie Polen oder Ungarn. Seither muss ich an all diejenigen denken, die Europa abgewiesen hat. Wie müssen sie sich fühlen, wenn sie sehen, dass Ukrainer hier Job und Wohnung finden, sie selbst aber nicht? Zählt ihr Leben und Leiden weniger?“, fragt Jaar. Als Angela Merkel 2015 verkündete „Wir schaffen das“, da habe er geweint vor Rührung. „Endlich habe ich Wärme gespürt.“
Die Pässe, sie stehen aber auch für den Hass, der den Flüchtenden entgegenschlug: Eine Million, das sei in etwa die Zahl der Wähler, die wegen Merkels Politik von CDU zu AfD abwanderten. Man steht berührt, beschämt, beklommen da, um einen herum die Rotunde-Pfeiler. Jaar hat sie bemalt: Schwarz, Rot, Gold. Für welche Werte stehen diese Farben?
Bis 27. August
Di.-So. 10-18, Do. bis 20 Uhr; der Eintritt ist frei.