Tausende von Menschen erleben genau das tagtäglich: Aufopferungsvoll pflegen sie ihre Liebsten, stellen sich ein aufs Abschiednehmen, kosten das Leben in seinem Schmerz und in seiner Schönheit aus bis zum letzten gemeinsamen Moment. Aber wer schon kann davon so erzählen, wie es der Schriftstellerin Helga Schubert („Vom Aufstehen“, 2021) mit ihrem neuen Werk „Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ gelungen ist? Ein einzigartiges, sehr persönliches, intimes Dokument von hoher literarischer Qualität.
Helga Schubert (83) berichtet darin von der innigen Partnerschaft mit ihrem Mann Derden, einst Professor für Klinische Psychologie und spätberufener Kunstmaler. Jetzt, Ende 90, fordert das Alter sein Tribut. An Rollstuhl und Bett gefesselt, pflegebedürftig, verwirrt sich sein Geist. Der Kitt des Daseins ist die Liebe der zwei Menschen zueinander seit mehr als 50 Jahren.
Und davon erzählt die Autorin: vom Glück des Noch-immer-Zusammenseins, von den Strapazen der Pflege, vom Unglück, dem physischen und geistigen Verfall des geliebten Menschen zusehen zu müssen. Aber auch von den Momenten der Heiterkeit und des Humors, der selbst in der „Heiligen Zone in der Todesnähe“ immer wieder aufblitzt. Dazu von der innigen Übereinstimmung des alten Paares, dem traurigen „Nie mehr“ und der befriedigenden Erfüllung, die die Erzählerin durch ihr nächtliches Schreiben erfährt. Zwischen ihren Reflexionen über den morgendlichen Wechsel des Blasenkatheters ihres Mannes oder über seine Ausbruchsversuche in der Dunkelheit mit dem Rollstuhl, die jeweils mit einem Sturz auf den steinig-sandigen Grund der mecklenburgischen Dorfstraße enden, ist aber noch Platz, an die frühen Jahren, ihre Liebe zu DDR-Zeiten, zu erinnern. Ebenso an die Nachbarn ihres ländlichen Zuhauses, an die Amsel im Garten, die Schönheit der Natur wie auch an Don Quijote und seine Windmühlen. Die Autorin selbst fühlt sich gleichzeitig als Sancho Pansa, Dulcinea und als jener Ritter von der traurigen Gestalt, mit denen sich Dichter Cervantes für immer seinen Platz in der Weltliteratur gesichert hat.
Pardon, so weit wird Helga Schubert es mit ihrem kleinen Meisterwerk wohl nicht bringen. Der Spanier war in seinem Roman frei von Eitelkeit. Gegen Ende ihrer Erzählung philosophiert die Berlinerin über das eigene Totsein, einen Zustand, in dem sie über den schwerstkranken Derden hinwegfliegt, um schließlich selbst im Sarg liegend Gast der ihr zugeordneten Trauerfeier zu werden. Da lässt sie noch einmal Teile ihres Lebens Revue passieren, bis sie gottlob auf den letzten 20 Seiten wieder ganz zurückfindet zu ihrem so kopfverwirrten Derden. Auf seiner Bettkante sitzend ein „Gute Nacht“, dazu der zärtliche Kuss und die Hoffnung, dass der Geliebte am nächsten Tag noch einmal auf ihr kräftiges „Guten Morgen“ reagieren möge. Allein schon für dieses sehnsuchtsvoll bestimmte Rufen kann man Helga Schuberts Buch lieben: Und „der morgende Tag wird für das Seine sorgen“ (Matthäus, Kapitel 6, Vers 34).
Helga Schubert:
„Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“. dtv, München, 265 Seiten; 24 Euro.