Nordische Naturgewalten

von Redaktion

Mirga Gražinytė-Tyla dirigierte in der Isarphilharmonie

Während Lydia Tár alias Cate Blanchett die große Leinwand erobert, sind Stardirigentinnen auf den großen Konzertbühnen, zumindest des austro-deutschen Kulturraums, noch immer eine Seltenheit. Etwas anders ist die Lage in der anglo-amerikanischen Szene. In Zentralengland prägte Mirga Gražinytė-Tyla von 2016 bis 2022 als Chefin das City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem sie nun in der Isarphilharmonie gastierte.

Der Musik freilich ist das Geschlecht ihrer Interpreten einerlei; auch Edward Elgar dürfte post mortem lediglich interessieren, dass ein hochmusikalischer Mensch sein Konzert für Violine und Orchester in h-Moll leitet: Energisch, raumgreifend, voller Spannung und mit pointierter Präzision gestaltet die litauische Dirigentin die lange, fast schon symphonische Eingangssequenz, bevor Vilde Frang ins musikalische Geschehen eingreift.

Diese norwegische Geigerin ist eine echte Naturgewalt. Satt und vollmundig ist ihr Ton, extrem athletisch ihr Spiel und drastisch ihre Bogentechnik, mit der sie gerade in den dynamischen Abschnitten hypervirtuos an der Grenze zum „guten Ton“ operiert. Selbst in den sanft gehauchten Passagen ist ihre Präsenz bestechend; im Zusammenspiel mit dem engagierten Orchester unter der befeuernden Dirigentin bekommt Elgar einen forschen und herben Anstrich, der mit jeglichen Geschlechterklischees in puncto Interpretationsweisen aufräumt.

Nach der Pause zeigt sich das City of Birmingham Symphony Orchestra mit einer von Mirga Gražinytė-Tyla eingerichteten Konzertfassung von Sergej Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“. Ein Festspiel insbesondere für die Blechbläser, die in mehreren der zehn Akten voll durchziehen und die Isarphilharmonie zum Dröhnen bringen. Umso zarter muten zierliche Episoden wie der „Tanz der jungen Mädchen“ an – dabei wissen wir spätestens seit diesem Konzertabend: Weiblichkeit schützt nicht vor kraftstrotzender Energetik… ANNA SCHÜRMER

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