Der reglose Körper der eigenen Mutter, aufgeschlagen auf dem Boden. Aus dem Fenster ist die Frau gesprungen, um ihr Leben zu beenden. Im Bewusstsein, das ihrer Tochter dadurch für immer zu verändern.
Diese Tochter heißt Charlotte Salomon (1917-1943) und ist zu diesem Zeitpunkt, 1926, neun Jahre alt. Sie wird fortan im Glauben an die Mär aufwachsen, die Mama sei an der Grippe gestorben. Erst rund 15 Jahre später erfährt die inzwischen junge Frau, was damals tatsächlich passiert ist. Die Nachricht über den Suizid der Mutter ist die Initialzündung für eine irre Schaffensphase. Salomon tut, wozu sie einst ihr geliebtes Kindermädchen „Hase“ ermuntert hat: das, was sie beschäftigt, künstlerisch zu verarbeiten.
Von 1940 bis 1942 fertigt Salomon 1325 (!) Gouachemalereien an. 769 Blätter, je 32,5 mal 25 Zentimeter groß, wählt sie aus und fügt sie zusammen zu einem schier unglaublichen Gesamtkunstwerk. Entstanden im Exil, kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz, wo die Jüdin und ihr ungeborenes Kind – im fünften Monat schwanger ist Charlotte – von den NS-Schergen ermordet werden.
Mehr als 230 der fragilen Blätter zeigt das Lenbachhaus nun im Kunstbau. Und obwohl die beiden Kuratoren Stephanie Weber und Dierk Höhne mit Irene Faber vom Jüdischen Museum Amsterdam, das Salomons Arbeit bewahrt, in ihrer fantastisch gehängten Ausstellung Wert darauf legen, das Werk, nicht das Schicksal der Künstlerin in den Fokus zu rücken, können auch sie den Entstehungskontext freilich nicht ignorieren.
1939 emigriert Salomon zu ihren in Villefranche-sur-Mer an der Côte d’Azur lebenden Großeltern. Charlottes Vater und dessen neue Frau Paula Lindbergh wähnen das Mädel dort in größerer Sicherheit als in Berlin. Doch als die Nazis weite Teile Frankreichs besetzen, werden Charlotte und ihr Großvater interniert (die Großmutter hatte wegen der Deutschen nun auch den Freitod gewählt), kommen aber wegen seines Alters frei. Er muss ein scheußlicher Mensch gewesen sein, möglicherweise sexuell übergriffig der Enkelin gegenüber, was nicht belegt ist. Weshalb sie ihn später laut eigener Aussage vergiftet hat. Auch dies: nicht verifiziert. Fest steht, dass der Großvater es ist, der Charlotte im Zuge des Suizids seiner Frau über den ihrer Mutter aufklärt. Und sie? Malt. Malt wie eine Besinnungslose. Aber alles andere als von Sinnen. Die junge Frau, die vor der Flucht nach Frankreich an der heutigen Universität der Künste Berlin studierte, weiß genau, was sie tut. Ihr „Singespiel“ wird das Werk ihres kurzen Lebens.
Man muss sich das mal vorstellen: Sie sitzt im Exil, abgeschnitten von der Heimat, der deutschen Kultur, von Freunden und Familie, und schafft ein Œuvre, das so voller Bezüge zu Film, Musik, Kunstgeschichte, zu Politik und Philosophie ist, dazu von solch künstlerischer Kraft, mit solch heftigem Herzschlag, als erlebte sie all das, was sie hier darstellt, unmittelbar. So muss man sich beim Betrachten der Bilder immer wieder in Erinnerung rufen, dass Salomon selbst hier aus der Erinnerung erzählt. Mitunter Dinge, die auch ihr nur berichtet worden sind. Ihr „Singespiel“, letztlich ihre fiktionalisierte Lebensgeschichte, beginnt etwa mit der Beziehung ihrer Eltern, ja, wenige Blätter weiter stellt sie ihre eigene Geburt dar. Schon da zeigt sich ihr Sinn für Humor.
Ein „Who is who“ ist der Ausstellung vorangestellt, die sich dem Werk gemäß in Vorspiel, Hauptteil und Nachwort aufteilt. Hier sieht man die wichtigsten Personen, die darin vorkommen, mit den Fantasienamen und einem Foto der realen Person. Sich selbst nennt die Künstlerin Charlotte Kann.
Dann geht sie los, die Lebensreise. Salomon/Kann ist auktoriale Erzählerin und wählt als Malerin Perspektiven, durch die sie über den Dingen zu schwebt. Jedes Bild könnte für sich stehen, zusammen ergeben sie eine Geschichte, die man auch ohne den Text versteht, den man im ausgelegten Heft lesen kann. Der beinhaltet Regie- und Musikanweisungen. Herrlich: Tritt ihre erste Liebe auf, gibt die Autorin die Melodie „Auf in den Kampf, Torero“ vor. Bereits im Vorspiel kann man sich kaum sattsehen. So viel gibt es hier zu entdecken an Referenzen, Kunststilen (Blauer Reiter! Käthe Kollwitz! Alte Meister! Chagall!). Bei aller Düsternis ist da ganz viel Witz, Lebensfreude, Klugheit. Über Goebbels macht sie sich lustig („Ich bin der Minista für Propaganda!“) und zeigt durch Bezüge zu Literatur, Oper, Theater, Film, aus welch kulturaffinem Haushalt sie kommt. Wimmelbilder voller Wahrhaftigkeit.
Besonders eindrücklich das Bild ihrer toten Mutter auf dem Asphalt. Eine Schreckensszene, die kein Kind einfach beiseiteschieben kann. Charlotte Salomon hat sie gemalt, damit sie ihr nicht ständig vor dem inneren Auge erscheint. Kunst als Rettung. Wenn jede Rettung fehlt.
Bis 10. September
im Kunstbau München; Di.-So. 10-18, Do. 10-20 Uhr.