Weißes, klinisch reines Wohnambiente in Grell-Beleuchtung – und dazu ein journalistisch nüchterner Text über den Missbrauch von Kindern in katholischen Schulen. Christian Stückl macht bei seiner Inszenierung von Thomas Melles Stück „Bilder von uns“ als Allererstes klar, worum es hier geht. Während der Schriftsteller sich zunächst mit Hilfe eines philosophierenden Gedankenstroms über Zeit, Erleben, Opfersein und Bilder sowie einer Unfallszene an das Thema heranschleicht, will der Regisseur keinen Umweg; er wird später die Klosterschule Ettal explizit nennen lassen (siehe auch Interview). Stückl hatte sie selbst besucht, wie Melle ein solches Institut in Bonn. „Bilder von uns“ hatte am Donnerstag im Münchner Volkstheater seine begeistert aufgenommene Premiere (zwei Stunden ohne Pause).
Der erfolgreiche Medienmensch Jesko wird durch ein altes Foto plötzlich mit der Vergangenheit konfrontiert: er, ein Kind, Opfer von sexuellem Übergriff. Die reflektierenden Textteile in Melles Werk (wohl seiner Hauptfigur Jesko) zerlegt Stückl und teilt sie unter den Schulfreunden Jesko, Malte, Johannes und Konstantin auf. Dadurch stellt er in der Figurengruppe ein Gleichgewicht her, was jedem der Schauspieler beste Gestaltungsmöglichkeiten verschafft. Den großen Bühnenkönner spürt man noch mehr darin, wie er die Frauenrollen aufwertet. Carolin Hartmann (Lehrerin), Henriette Nagel (Bettina, Jeskos Frau) und Nina Steils (Sandra, Konstantins Freundin) folgen ihm dabei mit Klugheit, Wärme und Humor.
Am meisten zeigt sich die Könnerschaft des Regisseurs und Intendanten jedoch in dem Genuss und in der Akribie, mit denen er sich mit seinem Team in die Argumentationen wirft. Nachdenken macht Spaß! Und die Zuschauer folgen bei der neuen Produktion so intensiv wie etwa bei „Unter Menschen“, „Die Brüder Karamasow“ oder dem Oberammergauer Passionsspiel im vergangenen Jahr.
Thomas Melle hat für solch Debattenlust mit seinem Drama eine ideale Vorlage geliefert. Er blockt Voyeurismus, Skandalisierung, Neugier auf die Täter ab. Er widmet sich vielmehr den Männern, die damit umgehen müssen, Opfer geworden zu sein. Drei Erfolgreiche, die „vergessen“ hatten, und ein Verzweifelter, der nicht vergessen kann, ziehen die Erinnerungen aus ihrem Innersten, drehen und wenden sie, um sie womöglich erträglicher zu machen, diskutieren Strategien der sogenannten Bewältigung.
In Stefan Hageneiers (auch Kostüme) oben erwähntem Einheitsbühnenbild debattieren, streiten, misstrauen und unterstützen sich die vier Schulfreunde, gespielt von Alexandros Koutsoulis, Janek Maudrich, Max Poerting und Jan Meeno Jürgens. Die jungen Künstler packen so furchtlos wie überzeugend die differenzierten Überlegungen Melles darstellerisch an. Sie kommen uns immer näher, weil es um die Haltung zu Opfern in einer Gesellschaft geht, in der Selbstoptimierung, die Rolle als starker Mann, mediales Ausschlachten zählen und in der sogar teilweise „Opfer“ als Schimpfwort benutzt wird. Die unfassbar tiefe Wunde des manipulierten missbrauchten Kindes aber offenbart nur Jürgens in seinem Monolog, bei dem es im Publikum so still wurde, als hätten alle selbst das Atmen eingestellt.
Nächste Vorstellungen
am 4., 9., 10. und 16. April; Telefon 089/523 46 55.