Gewalt mit Stil

von Redaktion

Andris Nelsons und das Gewandhausorchester Leipzig bei den Salzburger Osterfestspielen

In den besten Orchesterfamilien kommt so etwas vor. Hier passiert es im zweiten Satz. Die Leipziger geraten ins Schlittern, aufs Glatteis geführt von ihrem Chef Andris Nelsons. Ein plötzlicher, ungeprobter Tempowechsel ist wohl schuld. Das gibt sich wieder und wäre nicht weiter erwähnenswert. Doch es zeigt, welch Emotionsriese da im Großen Festspielhaus am Pult steht. Minutenlang versickert der Elan des irritierten Nelsons, erst im Folgesatz ist alles wieder im Lot. Es klingt, als ob ein neuer Tag beginnt.

Trotzdem hat diese Aufführung von Bruckners Siebter wenig zu tun mit der „Tannhäuser“-Premiere tags zuvor zur Eröffnung der Salzburger Osterfestspiele (wir berichteten). Die hatte sich dahingeschleppt, ausgebremst von einem detailverliebten Dirigenten. Auch der Beginn der Symphonie lässt zunächst Böses ahnen. An der untersten Tempo-Grenze, dort, wo einst Sergiu Celibidache mit Vorliebe operierte, erhebt sich das Hauptthema, entwickelt sich wie ein durchhängendes Seil. Doch dann gewinnt alles an Kraft. Jedes neue Kapitel, das Bruckner aufschlägt, bekommt einen genau geformten Charakter.

Plötzlich stimmen die Tempo-Relationen innerhalb der Sätze, auch die Modellierung der Details. Nelsons ist kein Freund des Konfrontativen, andere lassen bei Bruckners Brüchen Abgründe klaffen. Hier werden die Abschnitte ganz natürlich gegenübergestellt. Und das Leipziger Gewandhausorchester, für eine Saison österliche Festival-Truppe unterm Mönchsberg, spielt seine Qualitäten aus. Die Warmblüter-Fraktion im Blech, die tiefenscharfen Streicher, manch Holzbläser-Solo, all das hört man gern. Auch wenn es hie und da leicht klappert in den Übergängen.

Für Bruckners Kraftfelder und ihre Verlagerungen hat Nelsons ein Händchen. Auch für den musikantischen Witz, man höre dazu nur das Scherzo und das zügig genommene Finale. Für Brutalo-Wirkungen muss man sich eben andere Ensembles suchen, auch im Falle von Sofia Gubaidulinas Stück vor der Pause. Eigentlich sollte der Zwanzigminüter der mittlerweile 91-jährigen Russin viel früher uraufgeführt werden als Auftragswerk der Osterfestspiele. Sie wurde nicht fertig, auch Corona verzögerte alles, die eher zufällige Uraufführung von „Der Zorn Gottes“ fiel 2020 dem ORF-Symphonieorchester unter Oksana Lyniv in den Schoß.

Der Titel ist wörtlich gemeint. Die Bedrohungsgesten, die Granitblöcke, die wilde Gewalt signalisieren Unausweichliches. Hoffnung? Keine Chance, obgleich ein Beethoven-Zitat trösten soll. Bei Nelsons und dem Gewandhausorchester klingt das alles nicht abstoßend, eher kultiviert, auch im großen Aufriss mit Stil. Das Publikum ist trotzdem irritiert: wie es eben tönt, wenn die Realität ins Gala-Salzburg eindringt.

Weitere Aufführung

am 8. April; die Festspiele dauern bis 10. April; www.osterfestspiele.at.

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