„Gott! … laße Ihn in die Fußstappen seines Vaters tretten Amen.“ So flehte einst die Großmutter Augusts von Goethe, Catharina Elisabeth Goethe zu Hause in Frankfurt. Der Neunjährige hatte ihr mehrfach aus Weimar anschauliche Post gesandt. Die Hoffnung aber ging nicht auf. Jahre später, August war Jurastudent in Heidelberg, schrieb die gütige Frau ihrem gestrengen Sohn in Weimar, dem genialen Wolfgang: „Laße mir den guten Augst mit Schreiben ungeplagt ich weiß wo er wohnt – weiß er ist gesund – Er macht Fußreißen, was soll ich denn noch mehr wißen – plage den jungen nicht mit Schreiben…“
Möglicherweise war der einzige Sohn des deutschen Dichterfürsten Legastheniker. So etwas und noch viel mehr ist aus der umfassenden Biografie „Im Schatten des Vaters – August von Goethe“ von Stephan Oswald zu erfahren. Aufräumen will der Germanistik-Professor, Goethe- und Italien-Spezialist mit der gängigen Einschätzung Augusts von Untüchtigkeit, mangelnder Begabung und Trunksucht. Oswalds Biografie basiert weitgehend auf bislang unbekannten oder nicht beachteten Dokumenten: Briefe, Reiseberichte, die er dem Vater sandte, Tagebuch-Notizen; auch auf Mitteilungen, deren Empfänger August war, vom Vater, der Mutter, Freunden und so weiter. Wir tauchen ein in ein oft sehr kleinteilig beschriebenes Leben, in die Freudlosigkeit des Daseins in Weimar, wo Augusts Vater die berühmteste Geistesgröße Europas war. Sollte da der Sohn nicht in dessen Fußstapfen treten?
Nein. Das wurde zwar erwartet, doch es war ihm nicht gegeben. Er absolvierte glanzlos das Gymnasium und war das erste Mal verliebt. Caroline Schumann, Tochter eines Hofadvokaten und späteren Kriminalrichters. Eine ernste Geschichte, die von Augusts Mutter Christiane mit Verleumdungen hintertrieben wurde. Das Mädchen, so sprach man, habe sich später das Leben genommen.
Augusts vielleicht glücklichste Zeit war das Studentenleben in Heidelberg. Der Vater ermöglichte ihm alles, aber er kontrollierte beinahe jeden Schritt. Doch Heidelberg war weit weg von Weimar, und August genoss seine Freiheit. Nach drei Semestern setzte er in Jena das Studium fort.
Dort konnte August auf wissenschaftlichem Niveau seiner Leidenschaft für die Mineralogie frönen und sich in Weimar auf den Staatsdienst bei Hofe vorbereiten, an dem er nach dem Studium die Karriereleiter als Verwaltungsfachmann hochstieg. Schließlich bemühte er sich darum, die verarmte Ottilie von Pogwisch aus dem alten preußischen Adelsgeschlecht Henckel von Donnersmarck zur Ehe zu überreden.
Die stand unter keinem guten Stern. Zwei unglückliche junge Menschen. Ottilie betrog August mit Engländern, die nach Weimar gekommen waren, um Goethe zu huldigen. August wurde durch zügellosen Alkoholgenuss aufgeschwemmt, also körperlich unattraktiv. Auch intellektuell hatten beide sich nicht viel zu sagen. Neben seinem anspruchsvollen Dienst bei Hofe war er nach dem Tod der Mutter Hausvorstand. Dazu beanspruchte ihn sein Vater über die Maßen als eine Art Privatassistent. Es ging über Augusts Kräfte.
Im März 1830 stellte er nach 19-jähriger Tätigkeit einen Urlaubsantrag. Eine Reise nach Italien wurde bewilligt. Die Freude war leicht getrübt dadurch, dass Goethe seinem 40-jährigen Sohn den 37-jährigen Johann Peter Eckermann als Begleitung mitgab. Das Verhältnis der beiden zueinander war nicht das beste. So beendete Eckermann, der getreue „Stenograph“ des alten Goethe, die Italien-Tour früher als August. Eine große Erleichterung. Was ihm blieb, war der Zwang, Tagebuch zu schreiben und an den Vater zu senden. Er erzählte nicht alles. Dass Kunst und Kultur für ihn zweitrangig waren und an erster Stelle die Begegnung mit den Einheimischen, mit deren Kneipen stand, sollte der Vater nicht so genau wissen. Nach der Besichtigung von Pompeji und anderen antiken Stätten wurde er der Dinge überdrüssig: „Ueberall Gräber. Was nützen solche Dinge?“
Über Rom sollte es zurück nach Weimar gehen. In der Ewigen Stadt zeigte August sich wieder von seiner „gesitteten“ Seite und traf mit den dort lebenden deutschen Künstlern zusammen. „Ich habe in Italien noch keine so vergnügten Abende zugebracht wie unter diesen Männern“, schrieb er nach Hause. Das waren Augusts letzte Aufzeichnungen. Am folgenden Tag plagten ihn Kopfschmerzen und eine allgemeine Schwäche, Fieberschübe. Zwischendurch noch ein Flasche Wein. Dann fiel er in Schlaf. Aufgeschreckt durch vermeintliche Albträume in dem Moment, da der Tod nach dem Vierzigjährigen griff. Es war der 28. Oktober 1830. Nach heutigem Stand der Erkenntnisse ist August von Goethe 40-jährig an einer eitrigen Hirnhautentzündung (Meningitis) gestorben.
Stephan Oswalds spannungsreiche Lebensgeschichte des Goethe-Sohnes führt uns in das im Wandel begriffene frühe 19. Jahrhundert, das geprägt war vom Aufstieg und Fall Napoleons, von der nationalen Bewegung und den Freiheitskämpfen 1813. Hineingepackt in diese Zeit ereignet sich der Konflikt der Generationen. Im vorliegenden Fall verstärkt durch den Weltruhm und der vermeintlichen Gefühlskälte des Alten und die Bescheidenheit und Liebe und Pflichterfüllung des Jungen. Je erwachsener er wurde, umso mehr war ihm der Fatalismus seiner Abhängigkeit bewusst.
Eine so spannende wie erregende psychologische Studie, die in ihren Beispielen und Erkenntnissen bis in die heutige Zeit reicht. Die literarischen Versuche Augusts im Anhang runden das Bild, das man von ihm bereits gewonnen hat, ab: ein begabter Mensch, protegiert und gleichzeitig im Zaum gehalten, zwischen Stolz auf seinen Vater und provokativer Bevorzugung Friedrich Schillers. Oswald hat ein anderes, ein neues Bild von August von Goethe gezeichnet, in all seinen Widersprüchen vermutlich das richtige, auf jeden Fall lesenswerteste.
Stephan Oswald:
„Im Schatten des Vaters – August von Goethe. Eine Biographie.“ Verlag C. H. Beck, München, 424 Seiten; 32 Euro.