Kulissenkunst in Echtzeit

von Redaktion

Sofiia Melnyk zeichnet live das Bühnenbild zu „Green Corridors“

VON THERESA KUCHLER

Wie mit einem Pinsel streicht Sofiia Melnyk den minenlosen Stift über den Bildschirm ihres Tablets. Sie zieht eine schwarze Linie, verbindet sie zu Formen, und binnen Sekunden füllen stilisierte Möbel und Gestalten die weiße Grafik. Melnyk, eine zierliche Frau mit schulterlangen Locken, türkisem Lidstrich und knallgelbem Sweatshirt, zeichnet einen Comic, der so schnell verschwindet, wie er entstanden ist. Mit einem Wisch ist alles weg.

Seit Ende Februar wiederholt die 35-Jährige immer wieder die Zeichnungen, die dem neuen Theaterstück „Green Corridors“ das Bühnenbild geben. Wenn die Münchner Kammerspiele an diesem Freitag die Tragikomödie uraufführen, wird Melnyk an einem Tisch auf der Bühne der Therese-Giehse-Halle sitzen und in geübten Gesten die Kulisse skizzieren, die das Publikum in Großformat zu sehen bekommt. Bühnenmalerei in Echtzeit.

„Green Corridors“ erzählt von vier ukrainischen Frauen, die auf dem Weg nach Europa sind. Der blutige Angriffskrieg Russlands hat sie zur Flucht gezwungen, nun suchen sie über „grüne Korridore“ den Weg in den sicheren Westen. Während drei der Frauen Zeuginnen von Mord und Vergewaltigung wurden, gibt die vierte nur vor, Schreckliches durchgemacht zu haben.

Die ukrainische Autorin Natalia Vorozhbyt hat das Drama für die Kammerspiele geschrieben. Mit schwarzem Humor porträtiert sie darin die Frauen im Zwischenreich: zwischen Heimat und Fremde, zwischen Weggehen und Ankommen, zwischen Krieg und Frieden. Jan-Christoph Gockel, der bei „Green Corridors“ Regie führt, setzt bei der Inszenierung auf eine deutsch-ukrainische Besetzung. Melnyk sagt, das Stück bringe einen genauso zum Lachen wie zum Weinen.

Sie ist selbst gebürtige Ukrainerin. Zum Studium kam Melnyk vor neun Jahren an die Filmakademie nach Ludwigsburg in Baden-Württemberg, inzwischen lebt die 35-Jährige in Stuttgart. Ihre Familie hat das zerbombte Kiew noch nicht verlassen. Bei den ersten Proben sei sie in Tränen ausgebrochen, erzählt Melnyk. Sie finde es wichtig, dass der Krieg und seine Folgen am Theater aufgearbeitet werden. Auch für sie persönlich. „Meine Gedanken drehen sich ständig um den Krieg. Durch das Stück muss ich sie nicht unterdrücken, sondern kann sie in meine Arbeit einfließen lassen.“

Live zu zeichnen, sei eine ganz andere Erfahrung als das Arbeiten im Studio. Die Illustratorin, die vor ihrem Engagement an den Kammerspielen vor allem Zeichentrickfilme animierte, findet, dass die schnelle Arbeit auf der Bühne eine ganz eigene Energie innehabe. „Man muss es aber mögen, wenn einem beim Zeichnen zugeschaut wird“, sagt sie und schmunzelt. Neben ihren Live-Illustrationen erscheinen auch Fotos und Animationen, um das Stück in Kontexte zu setzen. Diese Elemente sind bereits vorbereitet, Melnyk muss nur auf Play drücken. „Den Rest zeichne ich jedes Mal neu.“ Die Arbeiten, die die Künstlerin über die große Kulisse flimmern lässt, vergleicht sie mit Kinderbildern: einfache Striche, so schmucklos wie effektvoll. „Das vermittelt auch die Unsicherheit, die bei den Frauen herrscht.“

Einige Charaktere des Stücks seien zudem selbst Mütter, deren Kinder man aber nicht sieht. Der Stil passe daher gut ins Bild, findet die Künstlerin. Das Hauptbühnenbild ist ein Warteraum. Eine kahle Wand mit Lampen, vor der die Menschen Schlange stehen. „Es geht ja eigentlich ständig ums Warten“, sagt Melnyk. „Darauf, dass der Krieg vorbei ist. Und darauf, dass man nach Hause kann.“

Premiere

von „Green Corridors“ am 14. April um 20.15 Uhr. Telefon: 089/233 966 00.

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