Er ist der zurzeit vielseitigste, polyglotteste und stilistisch reflektierteste Tenor – wobei die Bezeichnung bei Michael Spyres nicht ganz passt. Als Baritenor verfügt der US-Amerikaner über eine kernige Mittellage und Tiefe, schwingt sich aber locker in die Stratosphäre auf, wo die Luft für Kollegen viel zu dünn ist. Nach der CD „Baritenor“, wo er mal als Bariton, mal als hoher Tenor verblüffte, legt der 44-Jährige jetzt das Album „Contra-Tenor“ mit Arien aus dem 17. und 18. Jahrhundert vor (siehe Kritik rechts).
Erst die CD „Baritenor“, jetzt „Contra-Tenor“: Beim Kino würde man vom Sequel sprechen.
Das stimmt. Beide CDs wurden fast unmittelbar hintereinander eingespielt. Wieder geht es um tiefer gelagerte Männerstimmen, die über ein sehr gutes hohes Register verfügen. Ich wollte schon immer eine Baritenor-CD machen, dachte mir aber, dass man dazu grundsätzliche Informationen liefern muss. Viele sind ja verwirrt darüber, dass dies ein eigenes Gesangsfach ist – obwohl es Baritenor-Partien vom Barock bis zur Romantik gibt.
Häufig werden barocke Tenorrollen mit einer sehr lyrischen, schmalen Stimme gesungen. Bei Ihnen ist das anders. Muss man diesen Partien wieder Gewicht, Gehalt und Farben zurückgeben? Wenn man Barockmalerei betrachtet, ist das ja auch keine vegetarische Kunst.
Es gibt da viele Missverständnisse. Wenn man liest, was damals über Sänger geschrieben wurde, über ihr Timbre und ihren Stil, dann deutet das nicht unbedingt auf schmale Stimmen hin. Die Baritenöre haben studiert bei den berühmtesten Solisten ihrer Zeit, also bei den Kastraten. Die pflegten zwar einen leichten, agilen Gesang. Trotzdem wollte das Publikum das ganze, volle Vokalinstrument hören – und nicht nur einen klanglichen Ausschnitt. Man muss auch bedenken, dass oft zum üppig instrumentierten Orchester gesungen wurde. Außerdem gab es Freiluftaufführungen. Eine Mini-Stimme hätte sich da nie durchsetzen können. Es geht nicht darum, dieses Repertoire wie Wagner oder Puccini zu singen. Aber Barockstimmen hatten tatsächlich mehr Substanz, als mancher heute glaubt.
Zu Beginn Ihrer Karriere mussten Sie um die höheren Töne kämpfen.
Ich habe von Natur aus eine tiefe Stimme. Es hat ungefähr zehn Jahre gedauert, bis ich ganz im Tenor-Bereich angekommen war. Die erste Arie, die ich gelernt hatte, war Leporellos „Register-Arie“ aus Mozarts „Don Giovanni“ (singt in Original-Lage: „Madamina il catalogo è questo…“). Ich hatte mit 19, 20 einige Bariton-Rollen im Repertoire. Danach ging es immer weiter nach oben – auch wenn meine Technik zunächst nichts mit der eines modernen Tenors zu tun hatte. Für mich existierte anfangs die Lage über dem zweigestrichenen G nicht, die konnte ich nur mit Falsett erreichen. Wie man das mit Bruststimme singen sollte, war mir schleierhaft.
Was passiert mit Ihnen jetzt, wenn Sie extrem hohe Töne singen? Eine Art Erfüllung? Eine Explosion, Befriedigung? Oder gibt es auch Angst?
Angst spielt eine gewisse Rolle. Wenn es technisch okay ist, wenn die richtigen Resonanzräume beteiligt sind, dann ist es auch wunderbar. Weil eben die Resonanz im ganzen Körper spürbar ist. Allerdings hat das, gerade in hoher Tenorlage, nicht unbedingt mit dem etwas zu tun, was draußen ankommt. Manchmal, wenn ich total zufrieden bin, sagt meine Frau: „Ja, okay. Aber es hat mich nicht ganz erreicht.“ Es scheint also besser zu sein, nicht nur auf sein inneres Fühlen zu vertrauen – weil der Ton dann, wie soll ich sagen, zu sehr bei mir bleibt.
Wenn man Sie beim Singen beobachtet, fällt auf, wie entspannt Ihr Gesicht ist. Machen die Kollegen, die dauernd Grimassen schneiden, etwas falsch?
Nein, nein! Im Grunde stand ich schon auf der Bühne, bevor ich sprechen konnte. Deshalb ist mir immer sehr klar, was ich auf der Bühne tue, ob ich mein Gesicht verzerre oder nicht. Bei allem ist mir also bewusst, dass jemand zuschaut. Es ist wohl wie in einer Dauer-Show…
Wie riskant war es anfangs zu sagen, dass Sie nicht in ein Raster passen?
Sehr. Ich hatte zum Beispiel ein Vorsingen in Italien, trug dort italienische Arien vor und bekam zu hören: „Sehr schön, aber sie haben keine italienische Stimme.“ Ähnliches in Deutschland: „Sehr interessant, Sie können gern Mozart singen – aber für Rossini ist die Stimme zu groß.“ Überall, wo ich hinkam, war da eine andere Meinung. Deshalb entschied ich: Ich suche mir die Partien aus, die meiner Meinung nach zu meiner Stimme passen. Lauter obskure Sachen, bei denen man mich mit keinem anderen vergleichen konnte. Das Fachsystem verhindert einfach Flexibilität – und sorgt oft für eine falsche Stimmausbildung und -entwicklung. Daher glaube ich nicht, dass ich etwas Besonderes bin oder eine Ausnahme.
Hand aufs Herz: Tiefere Tenor-Rollen und daher dunklere Charaktere wie Cato oder Bajazet sind doch interessanter als Langweiler wie Tamino oder Ottavio.
Sie können langweilig sein. Sie sind vielleicht keine Supermänner wie Giovanni. Aber sie machen eine Entwicklung durch und haben eine wichtige Funktion in der „Zauberflöte“ oder in „Don Giovanni“. Das muss eben herausgearbeitet werden.
Es heißt, dass Sie etwas Österreichisch sprechen…
(Auf Deutsch:) Na ja, das Wienerische hört man a bissl. (Wieder auf Englisch.) Ich studierte drei Jahre lang in Wien. Was mir sprachlich aber vor allem half: Ich sang im Arnold-Schönberg-Chor und dort fünf, sechs Male unter Nikolaus Harnoncourt. Das brachte mich erst so richtig dazu, ins Mozart-Repertoire zu gehen. Dabei durfte ich damals den besten Sänger-Solisten zuhören, übrigens auch dem jungen Jonas Kaufmann, das hat mir ebenfalls geholfen. Außerdem braucht man eine gute Technik, wenn man als Chorist fünf, sechs Stunden pro Tag singt – und das bei einer Repertoire-Breite von Monteverdi bis Berg.
Wie hieß eigentlich der Pudel, den Sie als Ottavio im jüngsten Salzburger „Don Giovanni“ an der Leine halten mussten?
Oh Gott, das war eine meiner frustrierendsten und zugleich lustigsten Erfahrungen. Man machte mir das Kompliment, dass meine Stimme so wunderbar sei. Sie habe diese Träne im Klang, dieses Flehen. Dabei war es so: Jedes Mal, wenn ich sang, winselte der Hund leise mit… Man hat mich mit ihm verwechselt!
Das Gespräch führte Markus Thiel