Es gibt Momente, da schnallt es das Publikum einfach nicht. Dieses oder Ähnliches, vielleicht Schlimmeres muss er sich gedacht haben. Das „Dona nobis pacem“ rauscht auf zum triumphalen Höhepunkt, der Schlussakkord steht majestätisch im Raum der Alten Oper Frankfurt. Sir John Eliot Gardiner lässt die Arme oben, bittet damit um Stille, doch der Applaus platzt los. Kopfschütteln, Schulterzucken auf der Bühne. Vielleicht hat dem Dirigenten später jemand klargemacht: Mancher hält die Anspannung nach einer solchen Aufführung eben nicht aus.
Zu seinem heutigen 80. Geburtstag schenkt sich der Brite und seinen Fans das ultimative oratorische Werk, und dies – wie gewohnt bei ihm – in einer ultimativen Deutung. Mit Bachs h-Moll-Messe touren er, sein Monteverdi Choir und seine English Baroque Soloists gerade durch Europa. Eine Interpretation, die dort ansetzt, wo andere die Segel streichen müssen. Ein überlegener, locker Haken schlagender, sehniger Dauerlauf auf den Mount Everest der Kirchenmusik. Das war schon immer so bei Gardiner, Kunststück: Ihm stehen schlicht der weltweit führende Chor und ein ebensolches Barock-Orchester zur Verfügung.
Nur das Beste, ob in der Besetzung oder in der Interpretation, das ist Gardiners Credo seit 1964, dem Gründungsjahr des Monteverdi Choirs, vier Jahre später kam das passende Orchester dazu. Zwei handverlesene Truppen, die mehrere Generationenwechsel hinter sich haben – von Gardiner aktiv befördert: Wer das Niveau nicht halten kann, fliegt raus, manchmal schon nach einem einzigen Konzertprojekt. In der Alte-Musik-Szene war der Brite einst der Antipode Nikolaus Harnoncourts. Wo Letzterer mit gerunzelter Denkerstirn und oft bedächtigen Tempi in die letzten Winkel der Partituren kroch, überrumpelte Gardiner (zumindest anfangs) mit Brillanz und Virtuosität.
Das ist inzwischen anders. Seit geraumer Zeit erreicht Gardiner, dessen musikalische Eltern für einige Jahre Elias Gottlob Haußmanns berühmtes Bach-Porträt besaßen, eine andere Dimension der Innigkeit und Tiefenreflexion. Und dies, das lässt ihn konkurrenzlos bleiben, ohne an Intensität und technischer Souveränität einzubüßen. Im Gegenteil, zuweilen wird er sogar rasanter als früher, gerade in Frankfurt zu erleben, als die „Gloria“-Fuge der h-Moll-Messe wie ein Maserati durch den Raum braust. Gardiner pflegt dabei einen offensiven Klang. Mit dem veganen Purismus der Kollegen hat seine Kunst nichts gemein, es ist das Äquivalent zu den prallen Muskelspielen auf barocken Gemälden.
Bach war und ist dabei Gardiners Fixstern. Im Jahr 2000 führte er alle 199 erhaltenen Kantaten auf einer „Bach-Pilgerreise“ auf, seine Überlegungen hat er in einem großartigen Buch (erschienen bei Piper) zusammengefasst. Doch da sind auch seine bestechenden Erkundungen von Monteverdi, Beethoven, Schubert oder Berlioz. Und manchmal, wie im Falle von Mozarts Opern, setzt er sich selbst in den Regiestuhl, weil ihm die szenischen Konzepte der eigentlich dafür Berufenen nicht genügen.
Zur Geschichte des Maximalisten Gardiner gehört also auch: Er eckt an. Als er sich mit seinem Plattenlabel nicht mehr vertrug, gründete er ein eigenes. Beim NDR-Symphonieorchester war er Chef, die Beziehung ging in die Brüche. Mit den Wiener Philharmonikern überwarf er sich irgendwann. Bei der Leipziger Bach-Stiftung schlug man drei Kreuze, als der Brite das Präsidentenamt abgab. Auch aus dem BR-Symphonieorchester, bei dem Gardiner regelmäßig gastiert, hört man Murren. Etwa, als er vor einigen Jahren verfügte, Streicher und Holzbläser hätten nach altem Brauch gefälligst im Stehen zu musizieren. Wer den Ärger runterschluckt, muss sich eingestehen: Am Ende kommt es zu oft zu spektakulären Aufführungen.
Mittlerweile ist Gardiner freies Radikal der Musikszene. Im Sommer stemmt er Berlioz’ Monumentaloper „Les Troyens“. Zwischendurch schöpft er Kraft auf seinem Bio-Bauernhof mit 100 Rindern und 900 Schafen im englischen North Dorset. Vom Streben nach dem Optimum ist er weiterhin besessen. Perfektion, so sagte er einmal im persönlichen Gespräch, sei „immer ein Stück weit von dem entfernt, was ich gerade mache“.