Dieser familiäre Auftrag ist alles andere als einfach zu erfüllen. Und doch riskiert Lisa, die Ich-Erzählerin in „Aleksandra“, ihr Leben, um der Bitte ihrer Großmutter nachzukommen. Im Sommer 2018 reist sie in deren Heimat, die Ukraine. An der Grenze zum Donbass müht sie sich, den Soldaten am Checkpoint zu überzeugen, sie doch hinüberzulassen, in die sogenannte Volksrepublik Luhansk. Die Enkelin wurde von ihrer Oma geschickt, um in der Ostukraine Onkel Kolja zu suchen – oder zumindest sein Grab.
„Aleksandra“ ist der Debütroman von Lisa Weeda, Jahrgang 1989, Niederländerin mit Wurzeln in der Ukraine. Vor zwei Jahren ist das Buch im Original erschienen, eroberte die Bestsellerliste und wurde in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt. Nun liegt das Werk auf Deutsch vor; heute Abend stellt die Schriftstellerin es im Münchner Literaturhaus vor.
Die 34-Jährige, die bis dato als Drehbuchautorin und Virtual-Reality-Regisseurin arbeitete, vollendete das Manuskript vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Ihrem packenden Text konnte nichts Besseres widerfahren. Denn so schrieb Weeda, ohne von den schrecklichen tagesaktuellen Nachrichten beeinflusst zu werden. Sie nutzte ihre Familienchronik als Basis der Erzählung, um über die wechselhafte Geschichte des Landes und seiner Menschen zu berichten.
Der Roman sei „ein Denkmal für meine Familie“, erklärt die Niederländerin. Doch trotz Stammbaum und Landkarte, die beim Lesen Orientierung geben, geht „Aleksandra“ weit über das gerade bei der jüngeren Autorengeneration seit geraumer Zeit beliebte autofiktionale Schreiben hinaus. Weeda lässt die Protagonistin, die ihren Namen trägt, durch Zufall (und beim illegalen Grenzübertritt) in den „Palast des verlorenen Donkosaken“ stolpern. Ein magischer Ort, der Realität weit enthoben – und daher umso wahrhaftiger. In diesem Transitraum zwischen Leben und Tod trifft die Erzählerin ihren Urgroßvater Nikolaj. Der ist zwar 1953, also lange vor ihrer Geburt, gestorben – und doch derart fit („Er scheint keinen Tag älter zu sein als auf dem Foto“), dass er mit Lisa eine Reise durch die Familienhistorie unternimmt, in der sich freilich jene des Landes spiegelt.
Das kann eben nur Literatur: Ein im Großen wie Kleinen so wechselvolles Jahrhundert wie das 20. erzählerisch derart zu verdichten, dass die Leserinnen und Leser nicht nur persönliche Schicksale kennenlernen, sondern darüber hinaus Mechanismen von Macht begreifen, ihnen aber auch Momente des Glücks begegnen. Weeda zeigt anhand der Geschichte ihrer Oma, die von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiterin nach Deutschland deportiert wurde, wo sie später ihren Mann kennenlernen sollte, die vielen Facetten des Menschseins auf. Symbolisiert werden diese durch das rote und schwarze Garn, mit dem jenes Tuch bestickt ist, das Aleksandra ihrer Enkelin mit in die Ukraine gegeben hat – für das Grab von Kolja. „Unsere Familie ist durch das Rot und Schwarz miteinander verbunden. Durch Leben und Tod, durch die Linien, die es durchlaufen, ineinander fließen, gegeneinander prallen, sich voneinander fortbewegen, neue Linien entstehen lassen.“ Wobei Letzteres die wohl größte Stärke des Menschen ist.
Lisa Weeda:
„Aleksandra“. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Kanon Verlag, Berlin, 288 Seiten; 25 Euro.
Lesung: Lisa Weeda stellt ihr Buch heute, 19 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter 0761/88 84 99 99 oder online unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.