Alle wollen Vermeer sehen. Gut, vielleicht nicht alle. Aber doch so viele, dass die große Ausstellung mit 28 der noch etwa 37 existierenden Gemälde des holländischen Meisters Johannes Vermeer (1632-1675) im Amsterdamer Rijksmuseum bereits kurz nach der Eröffnung am 10. Februar ausverkauft war. Selbst als das niederländische Haus die Öffnungszeiten verlängerte, waren die zusätzlichen Tickets für die noch bis 4. Juni laufende Schau wie berichtet im Nu vergriffen. Eine Reise nach Amsterdam lohnt wegen van Gogh, Grachten, Stroopwafels und Blumenmarkt zwar trotzdem. Aber: doch nicht bei dem Wetter! Stattdessen düst man dieser April-Tage lieber nach Berg (Kreis Starnberg). Dort hat Kunsthistorikerin Karin Jenette-Martin gerade erstmals bei sich daheim zum Vermeer-Dia-Abend eingeladen.
Wobei der Projektor ein Beamer und die Dias digitale Abzüge der Vermeer-Werke sind. Alle 28, wie in Amsterdam. Eigentlich hatte Jenette-Martin mit einer Gruppe dorthin reisen wollen, das scheiterte am Ticketkauf. Also tat die leidenschaftliche Kunstvermittlerin, die unter anderem in New York studiert hat, was sie immer tut: kreativ sein. Rund 25 Stühle im Wohnzimmer aufgestellt, Leinwand, Pult und Laptop von einem ihrer vier Söhne eingerichtet. Und in der Küche ein mit holländischen Speisen reich gedeckter Tisch bereitet, der an ein köstliches Stillleben erinnert. Zum Naschen gibt’s sogar besagte Stroopwafels. Mit Honig fängt man Kunstfreunde.
Aber erst der Vermeer-Spaß, dann das kulinarische Vergnügen. Den Wein dürfen die Gäste freilich schon genießen, während Jenette-Martin sie durch den Eingang des Museums geleitet. Über dem Haus strahlend blauer Himmel, das Wolkenspiel hätte Vermeer nicht schöner malen können. Ein Foto bloß, doch durch die Art, wie Jenette-Martin erzählt, spaziert man gedanklich sofort mit hinein. Das Staunen kann beginnen.
Vielleicht ist das der beste Beweis für die ganze Könnerschaft dieses faszinierenden Künstlers: Selbst in digitaler Form erschließt sich Vermeers Perfektion. Trifft uns der Blick der Briefleserin, die von der Leinwand aufschaut, als hätte sie uns beim Herumspionieren erwischt; wird die Erotik offenbar, die die Magd mit Milchkrug ausströmt, während sie doch scheinbar nur hoch konzentriert ihrer Arbeit nachgeht; und funkelt verführerisch der feine Speicheltropfen an den leicht geöffneten Lippen des Mädchens mit dem Perlenohrgehänge. Vermeers bekanntestes Porträt. In Wahrheit 45 mal 40 Zentimeter klein, für den Vortrag zeigt Jenette-Martin es vergrößert. Bei jedem Werk die Frage aus der Gästeschar: „Wie groß ist es im Original?“ Und dann ein erstauntes Raunen, wenn die Vortragende die tatsächlichen Maße mit auseinandergebreiteten Armen anzeigt. „Wären wir in Amsterdam, würden wir so nah herantreten, dass die Security wahrscheinlich gleich neben uns stünde.“
Solch ein digitaler Ausflug hat also seine Vorteile. Auch den, dass Karin Jenette-Martin vergleichende Bilder aus Vermeers Zeit heranzieht, die es in der Schau nicht zu sehen gibt. Und dass man hier so munter diskutieren kann, wie man es im Museum anstandshalber nicht tun würde. Bei der Frage, ob eine andere von Vermeers Briefleserinnen, die in Blau nämlich, denn nun wohl guter Hoffnung ist oder nicht. Da geht’s heiß her im Publikum.
Seit drei Jahrzehnten vermittelt die Expertin auf ihre mitreißende Art Kunst. Man kann sie als Führerin auf Reisen buchen. Oder für einen Ausflug in eine Ausstellung der Umgebung. Man kann bei sich daheim zum Beispiel einen französischen Abend einrichten, Baguette, Paté – und dazu ein Vortrag von ihr über die Kunst der azurblauen Küste. Was sich in all den Jahren geändert hat? Gibt’s mehr googelnde Besserwisser unter den Gästen? „Ach, auf Bustouren gibt’s das schon, dass da jemand alles überprüft und kommentiert“, sagt sie gelassen. Stört sie nicht. Was hingegen ärgerlich sei: die neuen Dimensionen. Wie jetzt bei Vermeer. Dass man Zeitfenster buchen muss, da habe man als Gruppe kaum mehr eine Chance. So führt sie heute meist vier Mal fünf statt einmal 20 Gäste. Gleicher Verdienst, vierfache Arbeit. Aber wenn man sie erlebt, wie sie auf wirklich jede Frage eine spannende Antwort weiß und sich über Hinweise mit einem Lachen kindlich-neugieriger Begeisterung freut, wird klar: Mit Arbeit hat das bei ihr nichts zu tun. Sie lebt für die Kunst. Und es macht große Freude, ihr dabei zuzuhören. » KOMMENTAR, SEITE 2
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per E-Mail an k.jenette- martin@hotmail.com.