Nicht immer ist der erste Eindruck richtig. Oft bedarf das Bild, das man sich von einer Situation macht, einer Korrektur. Auch die Legende von David und Goliat hat sich möglicherweise ganz anders abgespielt. Vielleicht war der Riese Goliat kurzsichtig, und Hirtenjunge David kämpfte mit unfairen Mitteln wie einer Steinschleuder, als doch eigentlich nur Schwerter oder Fäuste einzusetzen waren. Das im Werkraum der Münchner Kammerspiele uraufgeführte Rechercheprojekt „Die Geschichte von Goliat und David“ der Regisseurin Ayşe Güvendiren wirft jede Menge Fragen auf, über die sich im Anschluss an diese knackig und kompakt inszenierte Uraufführung (in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover) ausgiebig nachdenken lässt.
Denn Güvendiren diskutiert nicht nur den Zweikampf vom Stärkeren gegen den Schwächeren neu und fügt der bekannten Episode aus dem Alten Testament kluge, frische Perspektiven hinzu. Die Absolventin der Otto-Falckenberg-Schule verschränkt das Duell mit einer Gewalttat, die nicht ganz so lange zurückliegt.
Im Sommer 1994 starb der 16-jährige Kurde Halim Dener nachts auf dem Steintorplatz in Hannover. Als er dort mit Freunden PKK-Plakate klebte. Von der Hand eines Polizeibeamten. Durch einen Schuss in den Rücken. Aus nächster Nähe.
Güvendiren montiert nun Volkslieder, Zitate aus Zeitungsartikeln, Vernehmungsprotokolle und TV-Reportagen über den damals viel Aufsehen erregenden Fall mit Sätzen, die der Regisseurin während ihrer Recherche entgegengeschleudert wurden – vom besorgten „Bist du bereit für den Hass, der dir entgegenschlagen wird?“ bis hin zum galligen „Gute Reise, mein Kind. Meinen Segen hast du nicht“.
„Du bist Theatermacherin, keine Aktivistin“, schimpft einer: „Wo bleibt die Kunst?“ Doch gute Kunst ist bekanntlich immer auch politisch. Und so beleuchtet die Regisseurin erst den schlichten Ablauf des Skandals. Anschließend zeigt sie, wie Deners Tod von deutscher, türkischer und kurdischer Seite vereinnahmt wird, ehe sie die gesammelten Aussagen sehr organisch zu einem vielstimmigen Klage-Chor verschränkt.
Güvendiren hat vor ihrem Regiestudium in Augsburg Jura studiert. Sie weiß also genau, über welches Minenfeld sie mit dieser Arbeit schreitet. Manche Aussagen erscheinen deswegen vage, vorsichtig und vieldeutig, sind vermutlich aus juristischen Gründen nicht allzu heftig zugespitzt. Das ist schade, denn es nimmt der „Geschichte von Goliat und David“ manchmal die wünschenswerte flammende Schärfe. Dank ihrer preisgekrönten, ebenfalls im Werkraum der Kammerspiele gezeigten Inszenierung „R-Faktor. Das Unfassbare“ weiß man ja, dass sie diese sehr wohl beherrscht.
Bühne und Gestaltungsmittel sind dem Thema angemessen extrem reduziert. Ein mit Leinwänden bespanntes Karussell dreht sich, auf das Artikel, Filmausschnitte, Bilder oder Schattenrisse projiziert werden. Darauf, davor und daneben arrangieren sich Sebastian Brandes, Servan Durmaz und Şafak Şengül sowie der Musiker Mikaîl Ezîz immer wieder neu. Alle vier tragen identische weite Anzüge in changierendem Grün. Je nach Beleuchtung erinnert das an Clownskostüme oder an Uniformen. Die bleich geschminkten Gesichter mit den rot gemalten Wangen verstärken den Puppenspiel-Charakter.
Dieses betont Künstliche, Varieté-Hafte kontrastiert extrem stark mit dem nüchtern vorgetragenen, verstörenden Inhalt, etwa das Vernehmungsprotokoll des Todesschützen. Manches, was Güvendiren wichtig ist, mag nicht so recht greifen. Was der Abend aber sehr bewegend vermittelt, ist das tragisch kurze Leben eines Teenagers, der mitten in Deutschland schuldlos auf offener Straße erschossen wurde.
Nächste Vorstellungen
am 23., 27. und 28. Mai; Telefon 089/ 233 966 00.