Diva zwischen den Stühlen

von Redaktion

Anna Netrebkos umstrittener Auftritt bei den Maifestspielen in Wiesbaden

VON JUDITH VON STERNBURG

Am Freitagabend sang also nun Anna Netrebko bei den Internationalen Maifestspielen in Wiesbaden die Abigaille in Giuseppe Verdis „Nabucco“, ein Rollendebüt erster Güte. Es sind die tiefen und mittleren Lagen, in denen ihre Stimme noch mehr Volumen, Spannung und Ausdruck bekommen hat, die Höhen steht sie souverän, aber manchmal auch mit winzigen Spitzigkeiten. Letztlich ist der Saal zu klein für eine solche Stimme, wenn sie voll aussingt, und die Wucht der Rolle lässt ihr da keine Wahl. Als präpotente Schurkin macht sie sich gut, zuerst im spektakulären goldenen, nachher im schwarz-silbernen Kleid. Wenn Verdi auf dem Programm steht, ist das Garstige ja immer trotzdem ein Wohlklang, am größten, wenn nachher der Chor die samtseidene Hymne „Va, pensiero“ anstimmt.

Draußen vor der Tür klingt das nicht so angenehm, obwohl es um das Gleiche geht. Zu den „No Netrebko“-Rufen werden Transparente hochgehalten: „Putin, Hände weg von unserem Land“ zum Beispiel. In „Nabucco“ sind es die Hebräer, die hoffen müssen, die babylonische Geißel abzuschütteln, draußen stehen Ukrainerinnen und Ukrainer, viele eingehüllt in blau-gelbe Fahnen. Die Polizei passt auf, dass sie nicht die Treppe der Theaterkolonnade hochkommen, wo das Publikum Sekt trinkt. Etwa 450 Menschen demonstrieren laut Polizei, aufgerufen zum Protest hatte die Initiative Europa-Union, deren Vorsitzender Peter Niederelz die Einladung an Netrebko scharf kritisiert hatte.

Die Maifestspiele sollten in diesem Jahr besonders politisch werden, zu erleben war jetzt das Gegenteil. Kein Zueinander, sondern draußen entrüstete Kriegsflüchtlinge, die vor den Kopf gestoßen worden sind, drinnen Festspielatmo pur. Mit so viel Zwischenjubel und Bravogeschrei, dass es eine Nummerngala wurde und kaum noch eine ernst zu nehmende konzertante Aufführung. Fabelhaft übrigens, sich für einen Moment vorzustellen, die Beteiligten hätten kleine gelb-blaue Schleifchen getragen, wie man es zu Beginn des Krieges häufiger sehen konnte.

Selbstverständlich gibt es immer noch Menschen, die der Ansicht sind, Politik und Kunst hätten nichts miteinander zu schaffen, Verdi gehörte nicht zu ihnen. Ein verquerer Abend, angefangen damit, dass die hessische Kunstministerin Angela Dorn (Grüne) ein paar Stunden vorher noch einmal auf Twitter an die Bitte von Land und Stadt erinnerte, Anna Netrebko nicht auftreten zu lassen. Das Hessische Staatstheater wird von Stadt und Land getragen, es ist kein Pillepalle, wenn das Haus eine solche Bitte erreicht – wirklich eine Bitte, denn die hierzulande zum Glück respektierte Kunstfreiheit und Unabhängigkeit des Theaters verhindert ja jedwede Einmischung.

Der Intendant des Hauses, Uwe Eric Laufenberg, konnte also problemlos auf seiner Einladung beharren. Die traditionell glamourösen Maifestspiele hatte er diesmal den politischen Gefangenen dieser Welt gewidmet, ausdrücklich auch jenen in Russland wie zum Beispiel Alexei Nawalny. Laufenberg hatte dazu eine Theatertruppe aus Charkiw eingeladen. Diese, die den Auftritt mutmaßlich gut hätte brauchen können, sagte wegen Netrebko wieder ab.

Eingeladen waren außerdem die russischen Punker von Pussy Riot, die nach der Absage aus der Ukraine aus Solidarität ebenfalls nicht nach Wiesbaden kamen. Nun könnte man meinen, und so wurde es seitens des Staatstheaters auch gehandhabt: Die sollten sich bitte alle nicht so haben. Netrebko sei nicht schuld am Ukraine-Krieg, sie sei Sopranistin. Sie betet nach eigenem Bekunden für den Frieden und hat, wie sie sagt, den russischen Präsidenten Wladimir Putin „nur eine Handvoll Mal“ getroffen.

Nachdem sie den Krieg gegen die Ukraine doch noch verurteilt hatte, wurden ihr prompt Auftritte in Russland gestrichen. Dafür nahmen nach etlichen Ausladungen die Termine im Rest der Welt wieder zu. Eine Künstlerin zwischen den Stühlen. Eine Festspielorganisation in den Bezirken der Taktlosigkeit. Es gehört zu den ironischen Seiten des Ganzen, dass unter normalen Umständen nicht daran zu denken gewesen wäre, Netrebko auf der Höhe ihres Könnens für zwei Abende in Wiesbaden zu erleben.

Um sie herum wird groß aufgefahren: Die vereinten Chöre der Staatstheater Wiesbaden und Darmstadt singen. Michael Güttler leitet das gut aufgelegte Wiesbadener Staatsorchester und nimmt die Rolle eines rücksichtsvollen Begleiters ein. Als Nabucco ist der große Željko Lučić zu hören, der sich mit mächtiger, teils forcierender Stimme hineintastet und als Darsteller unwiderstehlich ist. Young Doo Park singt sich als Zaccaria die Seele aus dem Leib, Ioan Hoteas bezaubert mit herrlich leichtgängigem Tenor als Ismaele.

Sobald das dazwischen applaudierende Publikum es zulässt, kommt ein Erzählfluss auf, der wie so oft bei konzertanten Aufführungen die Inszenierung nicht vermissen lässt. Nach Abigailles Tod („Verdammt mich nicht“) und langem Jubel geht es am Ausgang an einem Spalier vorbei. Fast nur Frauen und Kinder, die „Shame“ rufen und Fotos von Toten hochhielten. Dazu ein Mann, der einen als Nazi beschimpft.

Pussy Riot treten übrigens am 24. Mai in Wiesbaden auf, nun nicht im Großen Haus des Staatstheaters, sondern im Schlachthof. Zur selben Stunde findet im Theater eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen und Vertretern von Menschenrechtsorganisationen aus der Ukraine, Russland und Belarus statt.

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