Endlich wieder Tanz live! Befreit von dem Pandemie-Druck startete die 18. Münchner Dance-Biennale gleich mit zwei Produktionen. Aus Montreal – Kanadas Aushängeschild für den zeitgenössischen Tanz – reiste Catherine Gaudet an mit „The pretty Things“. Und die Biennale traute sich, schickte erstmals einen Münchner mit einer Uraufführung ins Festivalrennen: Moritz Ostruschnjak kreierte „Rabbit Hole“. Eine postmoderne Version von Lewis Carrolls berühmtem Märchen „Alice im Wunderland“ von 1865?
Im alten Europa gibt es also noch eine Story mit Handlung (wenn auch zeitgenössisch aufgemischt) – jenseits des Atlantiks die pure Abstraktion. Und doch: Was Gaudets fünf Company-Mitglieder da auf die Bühne im Carl-Orff-Saal bringen, scheint so etwas wie eine extraterrestrische Fata Morgana.
Zunächst wie festgeklebt am Boden, nur die Arme schwingend, den Torso drehend und beugend, drängen sie dann in den Raum: in Fünfer-Kolonne bewegungs-gleichgeschaltet, Beine schwingend als Revue-Corps, dann auch eigenwillig individuell ausbüxend – dieser atemlose, so intelligent und erfindungsreich variierte Tanz ist mehr als beredt, ist voller Ausdruck, letztlich auch voller Bedeutung. Vor allem aber lassen diese gut sechzig Minuten die Fantasie frei. Wir sehen, dürfen rätseln, entziffern, werden hineingesogen in diesen optischen Dauerstrom, gedämpft unterspült von einem geräuschhaften Rhythmus, den Antoine Berthiaume geschaffen hat. Und wir bleiben hypnotisiert davon, wie diese fünf Menschenpuppen ihren motorisch ganz eigenen Kosmos erschaffen.
Und dann Ostruschnjaks „Kaninchengrube“. Lewis Carrolls Buch „Alice“ gehört zum Genre des literarischen Nonsens. Eine zeitgenössische Fassung ist also durchaus vertretbar. Was da an Projektionen über die große Leinwand huscht, erinnert an „Alice“-Illustrationen des britischen Zeichners John Tenniel (1820-1914). In einem Filmausschnitt flitzen Kaninchen durch die Nacht. Am Bühnenrand aufgestellte Neonröhren spenden Licht. Und große, leicht surreale Pappwesen ersetzen wohl die sprechenden Tiere des Märchens. Mikko Gaestel hat sich mit Video und Ausstattung sichtlich viel Mühe gegeben. Jonas Friedlich macht mit seiner bunten Musikauswahl bis hin zu flotten englischen Songs akustisch Stimmung. Und das Sechser-Tanzteam fetzt mit Engagement und tänzerischer Energie durch das Fairytale-Ambiente: Soli, Paar-Artistik, zitternde Körper am Boden wie bei einem epileptischen Anfall und eine witzige Gruppen-Varieté-Choreografie gleich vorne am Parkettrand. Ostruschnjaks „Rat Pack“ hat Feuer unter den Füßen. Positiv wertet man, dass das Vokabular des Choreografen noch so etwas Raues hat, etwas Unverbrauchtes. Routine ist nicht bei ihm.
Was für den Zuschauer noch nicht ganz durchkommt, ist Ostruschnjaks Anspruch, über die „Wunderland“-Impressionen hinaus in die „Untiefen des Internets“ vorzustoßen. Da hat er sich mit dieser ersten großen, zudem arbeitsreichen Choreografie für München einfach zu viel vorgenommen. Man vergleiche: Catherine Gaudet arbeitet seit 20 Jahren an ihrem Stil, an ihrer Aussagekraft. Kunst braucht eben ihre Zeit.
Dance
läuft bis 21. Mai; Spielplan und Karten online unter www.dance-muenchen.de.