Ein Glücksfall

von Redaktion

Das Bayerische Staatsschauspiel hat mit „Das Vermächtnis“ das Berliner Theatertreffen eröffnet

VON SABINE DULTZ

Ein Beginn voller Hoffnung. Das 60. Berliner Theatertreffen (noch bis 29. Mai) trumpft auf mit dem Eröffnungsgastspiel aus München. Das Residenztheater zeigte an den ersten beiden Abenden des deutschsprachigen Bühnenfestivals „Das Vermächtnis“ von Matthew Lopez und riss im Haus der Berliner Festspiele ein begeistertes Publikum zu Ovationen hin.

So mag es gewesen sein, als sich 1964 erstmals in West-Berlin der Vorhang hob für das gerade ins Leben gerufene Festival. Die zehn bedeutendsten deutschsprachigen Inszenierungen waren von einer prominenten Kritikerjury nach Berlin eingeladen worden. Künstlerisch, ästhetisch, politisch hochkarätig, so sollte es sein. Und die Eröffnungspremiere 1964 erfüllte demnach alle Voraussetzungen: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ von Peter Weiss. Eine Inszenierung des Berliner Schiller-Theaters von Konrad Swinarski. Im Lauf der Jahrzehnte war immer wieder auch das Residenztheater unter den auserwählten Bühnen. 1969 gleich zweimal: mit den theaterhistorisch noch heute bedeutsamen Inszenierungen von Hans Lietzau – Friedrich Schillers „Räuber“ und Heiner Müllers „Philoktet“. Dass jetzt, 2023, das Bayerische Staatsschauspiel mit „Das Vermächtnis“ in jeder Hinsicht daran anknüpft, ist ein Glücksfall.

Das Stück, frei nach dem Roman „Howards End“ (1910) von E. M. Forster, erzählt von der schwulen Community New Yorks zur Zeit Donald Trumps und führt in Rückblenden in die Zeit des notgedrungenen Verschweigens sowie in die Achtzigerjahre, als die Aids-Epidemie über das Land kam und zu Tausenden ihre Opfer forderte. Die jungen, erfolgreichen, homosexuellen Mittelständler des 21. Jahrhunderts, selbst in soziale, politische, emotionale Konflikten verstrickt, stoßen auf das Schicksal ihrer Vorgänger-Generation. Ein breit angelegtes Gesellschaftspanorama, das Regisseur Philipp Stölzl in einen vielschichtigen, epischen wie auch dramatischen, immer wieder in seiner ästhetischen Form überzeugenden Bilderbogen umsetzt, in dem Trauer und Komik, Drama und Kitsch ihren Platz haben.

Das Berliner Publikum sah sich konfrontiert mit einem erstklassigen Schauspielerensemble, von dem stellvertretend für alle Vincent zur Linden, Thiemo Strutzenberger, Oliver Stokowski und, natürlich, Nicole Heesters zu nennen sind. Stehende Ovationen, nicht enden wollender Beifall waren ihr Lohn.

Das neue Leitungsteam des Theatertreffens ist hundertprozentig weiblich: Olena Apchel, Carolin Hochleichter, Joanna Nuckowska. Bis jetzt Glück gehabt. Am Ende dieser Woche zeigen hier die Münchner Kammerspiele, was sie heute mit Ibsens „Nora“ verbindet. Und des Weiteren sind, neben zwei Berliner Produktionen und einem umfangreichen Beiprogramm, Gastspiele aus Bochum, Basel, Wien und Dessau zu sehen.

Bislang das einzige Bedauerliche: Die Festivalleitung hat auf den sonst üblichen Katalog verzichtet; und das anlässlich des 60. Jahrestages. Wir wollen es nach dem gelungenen Auftakt nicht gleich als schlechtes Omen werten. Doch die Berliner Festspiele und ihr Intendant Matthias Pees sollten das gedruckte Vermächtnis der legendären Triumphe wie Niederlagen des Theatertreffens annehmen und fortsetzen.

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