Endlich in der Familie angekommen: Man glaubt es Sir Simon Rattle sofort, wenn er das immer wieder beteuert. Einiges wird anders werden beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Und der neue Chefdirigent muss den Spagat schaffen –zwischen behutsamer programmatischer Neuausrichtung und dem Kampf ums ersehnte Konzerthaus im Münchner Werksviertel.
Gleich in Ihrem zweiten Konzertprogramm dirigieren Sie Mahlers Sechste, die „Tragische“. Eine Art britischer Humor?
(Lacht laut auf.) Wenn man die erste Saison mit einem solchen Orchester plant, möchte man so viel zeigen. Ich habe mir schon vor längerer Zeit gedacht: Ich würde das Ensemble wahnsinnig gern mit diesem Stück hören.
Haydns „Schöpfung“ zu Beginn dagegen ist wie das Drücken des Reset-Knopfes. Wollten Sie eine Art Münchner Nullpunkt markieren?
Es gibt eine BBC-Hörfunksendung, in der man seine acht Musikstücke für die einsame Insel vorstellt. „Die Schöpfung“ gehört für mich definitiv dazu. Ich habe mir sogar überlegt: Und wenn es nur ein Werk sein darf? Das wäre in meinem Fall wirklich genau dieses. Es ist kein simpler Jubel, da gibt es einen verborgenen Schatten. Das Werk handelt auch davon, was passiert, wenn wir die Schöpfung, die Natur nicht ehren.
Nikolaus Harnoncourt sagte immer, das klassische Konzertprogramm mit Ouvertüre, Solo-Konzert und Symphonie sei längst tot. Wie plant man also heute Konzerte?
Nikolaus hatte schon Recht. Aber überlegen Sie: Als Mahler erstmals seine siebte Symphonie aufführte, wurden nach der Pause ein Liszt-Klavierkonzert und zum Schluss eine Ouvertüre gespielt. Als dann viel später die großen Symphonien von Bruckner und Mahler häufiger in unseren Konzerten auftauchten, gab es kaum mehr Möglichkeiten, die Programmstrukturen zu variieren, weil in unserem Verständnis diese Werke vieles andere verdrängten. Ich kann mich dagegen noch an eine Zeit erinnern, als viel mehr kürzere Stücke an einem Abend aufgeführt wurden. Kurz gesagt: Ich mag es einfach, mit diesen verschiedenen Möglichkeiten zu spielen. Wo das alles hinführt – ich weiß es nicht. Während der Pandemie haben wir erfahren, dass kürzere Konzerte mit entsprechend kürzeren Werken gut angenommen wurden. Und das nicht nur, weil es die damaligen Corona-Bestimmungen verlangten.
Wenn Sie München mit Berlin vergleichen: Was funktioniert in diesem Kulturbiotop, was nicht?
Ich werde jetzt nicht ins Fettnäpfchen treten und sagen, was in München nicht funktioniert. München und Berlin sind so verschieden. Man glaubt gar nicht, dass sie im selben Land liegen. Klar, Berlin ist härter und ruppiger. München hat diese außerordentliche Wertschätzung der schönen Dinge. Geben Sie mir etwas Zeit, ich werde diese Stadt mehr und mehr entdecken. Was man auf jeden Fall spürt: die Geschichte dieses Orchesters. Den Einfluss von Rafael Kubelik, von Colin Davis, von Mariss. Es gibt dadurch eine besondere Wärme, ein kammermusikalisches Empfinden. Gerade deshalb fühle ich mir hier daheim. Hier denkt man: Dort ist zwar der Dirigent, aber wir arbeiten alle zusammen.
Das aber noch nicht in einer eigenen Heimat. Vor einigen Tagen hat Kunstminister Markus Blume im Landtag über Bayerns Kulturprojekte gesprochen. Das Konzerthaus taucht noch auf, nimmt aber in seiner „Kulturkaskade“ nicht gerade den ersten Platz ein. Hat diese Rede für Sie etwas verändert?
Eine Kaskade hat etwas mit einem Wasserfall zu tun. Und wir würden gern Teil der großen Wassermasse sein, die da bewegt wird. Und nicht etwas, das links liegen gelassen wird. Immerhin ist klargeworden, dass Minister Blume nicht prinzipiell gegen dieses Projekt ist. Dass der Eindruck entsteht, dieses Projekt müsse nicht baldmöglichst verwirklicht werden, ist ein anderes Problem. Aber genau das müsste aus meiner Sicht passieren. Für mich als Außenstehender, der ich wirklich noch bin, ist es sehr ungewöhnlich, dass es ein Grundstück für das Konzerthaus gibt und einen Vertrag mit dem Eigentümer, der sogar das Wort „Konzerthaus“ enthält. Und trotzdem heißt es, wir können nicht damit beginnen, weil wir noch überlegen und planen müssen. Für einen Außenstehenden ist das, sagen wir, überraschend. Klingt very british, ich weiß. Aber ich werde nun häufiger in München sein, und hoffentlich werden sich Möglichkeiten für mehr Gespräche mit Minister Blume und Ministerpräsident Söder ergeben. Die letzten, die ich mit ihnen hatte, waren im vergangenen Jahr.
Ein früherer Chef einer Münchner Kulturinstitution sagte mir einmal: Er habe es mit vier Ministerpräsidenten zu tun gehabt. Edmund Stoiber habe nicht so furchtbar viel von der Kultur verstanden, aber er habe um ihre Wichtigkeit gewusst. Liegt das Problem darin, dass zurzeit Letzteres nicht mehr der Fall ist?
Wir befinden uns in einer alarmierenden neuen Welt, in der wir gerade Kultur immer mehr brauchen. Auch weil wir Wege finden müssen, die Menschen zusammenzubringen. Schauen Sie, ich komme aus Großbritannien. Dort gab es nie leichte Zeiten für die Kultur. Insofern bin ich eine solche Diskussion gewöhnt. Es gibt in Deutschland, vor allem in Bayern aber noch das Gefühl, dass Kultur etwas Zentrales ist und zu unserem Verständnis von Humanität gehört. Also hoffe ich weiterhin.
Ändert sich die Rolle der Künstler gerade? Weil sie mehr Politiker sein müssen?
Ungefähr vor 45 Jahren saß ich neben dem Regisseur und Intendanten Peter Hall in Glyndebourne. Und ich fragte ihn: „Wie ist das, wenn man fast monatlich von Margaret Thatcher attackiert wird?“ Er meinte: „Simon, es ist ganz simpel. Es gibt keine andere Option, als sich zu verteidigen und für die Kultur zu kämpfen.“ Dann lächelte er: „Und als Nächstes bist du dran.“ Diesen Kampf will keiner von uns gern führen. Wir sind einfache Menschen, die nur Musik machen wollen. Aber überlegen Sie doch, auch wenn es längst bekannt ist: Ein Ensemble wie das BR-Symphonieorchester hat keine eigene Heimat. Es ist ständig auf Reisen in seiner eigenen Stadt. (Auf Deutsch:) Das ist seltsam, wie wir in Liverpool sagen.
Müssen Sie an zwei Fronten kämpfen? Für ein Konzerthaus und für Ihr Orchester, wenn Sie an die aktuelle Debatte um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk denken?
Auch das passiert ja gerade in Großbritannien. Es ist unglaublich gefährlich. Sobald manche Leute merken, dass solche Kürzungen in anderen Ländern möglich sind, erwägen sie das auch fürs eigene Land. Wir müssen einfach argumentieren…
…was ist denn das beste Argument?
Unseren Job einfach gut zu machen. Natürlich können wir klagen, kämpfen und immer wieder versuchen, mit Worten zu überzeugen. Das ist wichtig. Aber gleichzeitig müssen wir in der Realität den Nachweis erbringen, warum diese unsere Sache so notwendig ist. Warum also Rundfunkstationen einen öffentlichen Auftrag auch im Bereich der Kultur haben.
Das Problem ist nur: Die Entscheidungsträger beteuern ständig, wie wichtig das alles sei – und setzen trotzdem den Rotstift an.
Ich bin Brite. Und habe das mein ganzes Leben lang erlebt. Wir im Kulturbereich verstehen ja, dass es finanzielle Probleme gibt. Aber wir wissen auch, wie die andere, die dunkle Seite aussieht. Wenn es ein funktionierendes Kulturleben eben nicht mehr gibt. Ich habe als Zwanzig-, Dreißigjähriger erlebt, wie Politiker in Liverpool sagten: „Wir müssen die Stadt wiederaufbauen. Wir müssen ihr eine neue Philosophie geben. Und wir brauchen dafür die Kultur.“ Was für eine wunderbare Idee das doch war! Ich war immer Optimist und bin es auch jetzt. Was bleibt schon anderes übrig?
Das Gespräch führte Markus Thiel.