Wer Donna Leons Brunetti-Romane getreulich liest, weiß, dass er stets alte Freundinnen und Freunde treffen wird. Darauf freut man sich. Mag das Verbrechen zuschlagen, mögen Politik und Verwaltung in Venedig versagen, mag die Stadt zum Disney-Park verkommen, auf die lieb gewonnenen Bekannten ist Verlass. Bei „Commissario Brunettis zweiunddreißigstem Fall“, der uns unter „Wie die Saat, so die Ernte“ vorgestellt wird, werden wir aus vertrauten Klischees gescheucht. Ausgerechnet Alvise wird von der Autorin gewissermaßen rehabilitiert. Für die, die nicht zur Leon-Gemeinde zählen: Dieser Polizist ist der Leserschaft bisher eher als tollpatschiger, mit Vorsicht zu genießender Kollege im Gedächtnis. Nun erfahren wir, dass er bei einer Demonstration auf dem Festland festgenommen und verletzt wurde – bei einem Gay-Pride-Aufmarsch!
Guido Brunetti samt Freund und Kollege Vianello stürzen ins Boot und Auto, um Alvise schnell aus dem „Verlies“ in Treviso zu retten. Als Auftakt für einen Krimi zerrt diese Episode nicht wirklich unerträglich an den Nerven der Leser. Frau Leon erlaubt sich halt selbstironische Späßchen. Später wird eine Figur behaupten, dass Kriminalromane eigentlich nur zum Sprachenlernen, in dem Fall Italienisch, taugen…
Das einzige Spannungsmoment, das zunächst noch folgt, ist die gluckenhafte Sorge von Brunetti, Vianello und Commissario Claudia Griffoni um Alvise: Er ist bei der Arbeit einem stockkonservativen, mega-frommen Polizisten zugeteilt.
Während sich die Vorurteile positiv lösen und der Kriminalbeamte seinem Schwiegervater in Immobiliensachen einen Gefallen tun möchte, entdeckt ein Passant eine Hand im nächtlich schwarzen Kanalwasser. Die Gemächlichkeit ist vorbei; die Schriftstellerin zeigt, wie allein mit Fischen in trüben Lagunenwellen „Suspense“ erzeugt werden kann. Und im Leichnam erkennt der Kriminaler auch noch den Mann, Inesh Kavinda, der ihm gerade erst am möglicherweise zu verkaufenden Palazzo die Tür geöffnet und eine abschlägige Antwort erteilt hatte.
Danach beginnt das Geduldsspiel Polizeiarbeit. Bei der helfen Brunetti Bücher; nicht die Krimis des Toten aus Sri Lanka, sondern dessen Info-Material über den italienischen Terrorismus in den Achtzigerjahren. Wir treffen in dem Zusammenhang auf den jungen Studenten Guido, der von den extrem linken Ideen einiger älterer Kommilitonen fasziniert ist – jedoch von seiner Mutter, die Armut wirklich erlebte und sich mit Schwätzern auskannte, schnell geerdet wird. Einer von ihnen lehrt in der Gegenwart an der Uni und sitzt als Möchtegern-Adeliger im erwähnten Palazzo, einem heruntergekommenen Gebäude mit einst bezauberndem Garten, der längst von undurchdringlichem Gestrüpp erwürgt wurde.
Der Mörder/die Mörderin soll in dieser Rezension selbstverständlich nicht verraten werden. Nur so viel: Wichtig sind der vor Langem verschwundene Professore Loreti, ein kleines Fundstück in Kavindas Tasche, die ihm zugelaufene Hündin Sara – und naturgemäß Signorina Elettra, Chefsekretärin in der Questura. Sie räumt wie immer als Dea ex machina mit ihren Internet-Tricks diverse Rechercheschwierigkeiten beiseite. Ach ja, noch etwas Wichtiges: Es wird bei den Brunettis weiterhin gut gegessen.
Donna Leon:
„Wie die Saat, so die Ernte – Commissario Brunettis zweiunddreißigster Fall“. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich, 315 Seiten; 26 Euro.
Leon erlaubt sich selbstironische Späßchen
Es wird bei den Brunettis weiterhin gut gegessen