Endlich wieder Schauspielkunst

von Redaktion

PREMIERE Tschechows „Die Vaterlosen“ an den Münchner Kammerspielen

VON SIMONE DATTENBERGER

Humanistische, präzise, sinnliche Schauspielkunst – dafür standen die Münchner Kammerspiele einmal. Das Erbe wurde zunächst inkonsequent gepflegt, dann vergeudet und sogar verlacht. Nur das Publikum trauerte einer der schönsten, weil uns so nahen Kunstformen nach, die Menschen erfunden haben. Intendantin Barbara Mundel, die die vielen Schüsse nicht hören wollte, scheint die letzten Donnersalven nun doch wahrgenommen zu haben. Das geschmähte Star-Theater ist mit Gerhard Polt und den Well Buam („A scheene Leich“) fulminant und Schauspielhaus-füllend wieder da.

Und jetzt Joachim Meyerhoff. Wer ihn nicht als herausragenden Bühnenkünstler kennt, hat auf alle Fälle seine autobiografisch gefärbten Bücher gelesen, angefangen mit „Alle Toten fliegen hoch“. Der langjährige Burgschauspieler, der 2019 an die Berliner Schaubühne wechselte, beehrt nun für eine Anton-Tschechow-Produktion München. Als Regisseurin für den namenlosen Dramen-Erstling, meist „Platonow“, hier unter dem nicht gut erklärten Titel „Die Vaterlosen“, holte man die angesehene Regisseurin Jette Steckel. Und siehe da: Wie durch ein Wunder formte sich um diese beiden Kerne ein Ensemble, das von innen heraus strahlt. Das Premierenpublikum strahlte entsprechend heftig zurück. Jeder, ob auf oder vor der Bühne, spürte ein Aufatmen.

Das Stück, wohl zwischen 1878 und 1880 geschrieben, wurde erst 1959 in Mailand uraufgeführt. Der Menschenseelen durchleuchtende Blick von Tschechow (1860-1904) ist voll vorhanden, genauso wie seine bevorzugte Personage aus verarmter Gutsbesitzerin, alten Offizieren, reichen Geschäftsleuten, sehnsüchtigen Frauen, jungen, aufmüpfigen oder desillusionierten Kerlen, die nie etwas zustande bringen. Unglückliche Liebe gehört sowieso dazu und ganz viel Gerede.

Dass wir nicht hochnäsig auf das Russland des 19. Jahrhundert zurückblicken, dafür sorgt Steckel sofort. Vor den Eisernen Vorhang haben sich einige Männer mit ihren Bierkästen gequetscht und schwafeln aufgekratzt herum, während Zuschauerinnen und Zuschauer hereinkommen; mit ihnen eine attraktive Dame in bodenlangem Sommerkleid und Uniformjacke (kluge Kostüme: Pauline Hüners), elegant und burschikos zugleich: Wiebke Puls. Sie scherzt sich als Generalswitwe und Noch-Gutsbesitzerin durch die Parkettreihen hinauf auf das Stückchen Bühne. In all dem durchaus heutigen „Smalltalk“-Schwall tauchen unter dem Sirup des Freund- und Nachbarschaftsgetues harte Themen auf wie Wirtschaftssystem, Trunksucht, Gläubiger.

In dieses Gesellschaftsspiel hat die Regisseurin den Dramaturgen Carl Hegemann – er hat gelehrt, lange für Frank Castorf in Berlin gearbeitet – als Talkmaster integriert, der den Filmregisseur Ulrich Seidl („Paradies“-Reihe; zuletzt „Sparta“, bei dem es Vorwürfe des angeblichen Machtmissbrauchs gab) als Überraschungsgast an seiner Seite hatte. So passend und amüsant die Halbsatire auf alte weiße Männer, die gscheid daherreden, für das Stück ist, so sehr schadet sie zusammen mit anderen Einfällen wie Fremdtexten (Katja Brunner) der Inszenierung. Mit fast vier Stunden inklusive Pause ächzen deren Spannungsbögen und brechen öfter ein.

Das ist schade; deswegen ist der Truppe „nur“ ein fast großer Theaterabend gelungen. Meyerhoff zeigt sich mit Körperlichkeit und Stimmfülle als raumgreifender Künstler, der die Nervensäge Platonow gleichzeitig konstruiert und dekonstruiert; oft mit wunderbar gearbeiteten Miniaturen. Da hätte es Effekte wie das Gefummel mit dünnen Metallstangen nicht gebraucht. Nach dem Hochgehen des „Eisernen“ bilden sie den Wald (optisch tolle Bühne: Florian Lösche), in dem sich beinahe alle shakespearesk emotional verlaufen. Allerdings geht auch ab da die Regie häufig in die Irre. Beispielsweise bekommen alle (!) aus dem Ensemble ihren großen Auftritt, werden die Frauenfiguren zu bieder „emanzipiert“ oder wird Platonow zu simpel in die Täter-Schublade gesteckt. Tschechows Kunst macht doch aus, dass er uns zwingt, differenziert zu denken, und dass er uns vorschnelle Urteile wegreißt.

Nächste Vorstellungen

heute, morgen sowie am 14., 16., 28. und 29. Juni; Telefon 089/23 39 66 00; Ulrich Seidl und Carl Hegemann hinter der Bühne: www.muenchner-kammerspiele.de/dad-men-talking.

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