Bäume der Erkenntnis

von Redaktion

PREMIERE „blues in schwarz weiss“ im Marstall

VON MICHAEL SCHLEICHER

Sie kennen das natürlich auch: den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Das kommt vor, bei Einzelpersonen, bei der Mehrheit einer Gesellschaft. Dabei erzählen Bäume Geschichten, die Birke zum Beispiel. Deren Name wurzelt irgendwo tief im Indogermanischen und meint „leuchtend“, „schimmernd“, auch „glänzend“. Weil ihre Rinde gar so hell ist. Und daher ist es von zwingender Konsequenz, dass Nicole Marianna Wytyczak 16 Birkenstämme für die Uraufführung „blues in schwarz weiss“ auf die Bühne im Marstall des Münchner Residenztheaters gebaut hat. Es stehen schließlich die Gedichte von May Ayim (1960-1996) im Zentrum dieser 70 Minuten, die Miriam Ibrahim als schwebend poetischen und zugleich erdenschwer wuchtigen Abend eingerichtet hat: eine beeindruckende Inszenierung und eine starke letzte Premiere in dieser Saison des Bayerischen Staatsschauspiels.

Diese Produktion bringt nicht nur das Werk einer nach wie vor weitgehend unbekannten (oder gar vergessenen?) Lyrikerin ins Bewusstsein, Ibrahim und ihr Team haben auch einen sehr überzeugenden theatralen Zugriff auf den Kern von Ayims Schaffen gefunden.

Geboren wurde die Autorin, Pädagogin und Aktivistin 1960 als Sylvia Brigitte Gertrud Opitz in Hamburg. Und ausschließlich aus dem Grund, weil’s fürs Verständnis ihres Werks unablässig ist, sei an dieser Stelle die schnöde Nebensache erwähnt, dass die Haut ihrer Mutter weiß und die des Vaters schwarz war. Das Leben afro-deutscher Frauen in der mehrheitlich weißen Gesellschaft bestimmte May Ayims Dasein als Künstlerin, Feministin, Vorkämpferin, Pädagogin. Da ging’s um Identität, Zugehörigkeit, um Ausgrenzung und Rassismus, den versteckten und den offenen. Im Jahr 1995 erschien ihr erster Gedichtband, der auch diesem Theaterabend seinen Titel gibt, doch nur ein Jahr später sah die Autorin im Suizid den einzigen für sie gangbaren Ausweg. Heute betreut der Unrast Verlag Ayims Werk.

Ihre griffigen Gedichte haben nichts von ihrer Strahlkraft verloren, im Marstall werden sie ergänzt von Texten der 1994 in Köln geborenen Autorin Julienne De Muirier. Vor allem aber geben Isabell Antonia Höckel und Patrick Bimazubute den Vorlagen durch ihr körperliches, doch stets präzises Spiel eine intensive Lebendigkeit. Ihre Expedition in Ayims literarisches Werk erzählt auch von einer künstlerischen Selbstermächtigung. Am Ende jedenfalls haben sie alle Birkenstämme zur Seite geräumt und damit die Bühne frei gemacht für einen völlig neuen Aufbau. Hoffentlich. Langer Applaus.

Nächste Vorstellungen

heute sowie am 2., 25. Juli; Telefon 089/21 85 19 40.

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