Applaus-Orkan im Münchner Prinzregententheater. Und dies – man denke! – bei einem Tanzprogramm, das sogar die Opernfestspiele 2023 eröffnen durfte. Was war da los? Vor Jahren startete dort die Initiative „Junge Choreografen“. Dieses Konzept gibt Ballettchef Laurent Hilaire jetzt offensichtlich auf und beabsichtigt, jeweils mit einem Kurator „Verbindungen innerhalb einer choreografischen Sphäre aufzuspüren und daraus Elemente einer möglichen tänzerischen Sprache der Zukunft abzuleiten“. Klingt abgehoben. Gleichviel: „Sphären 01“ war ein Volltreffer.
Der international gefragte Marco Goecke, bei diesem Auftakt Hilaires Kurator, zeigte zudem sein „All long dem Day“ (2015). Gleich erkennbar Goeckes hypnotisierender „Marionetten-Stil“, den er nochmals hoch spannend variiert. Und das Zwölferteam des Bayerischen Junior Balletts gleitet, schneidet, saust in Wettkampf-Tempo durch das immer wieder anders rhythmisierte Wahnsinns-Vokabular: Arme, die wie Zangen in die Luft greifen oder im Ellbogengelenk rotieren; Füße, die klassische Schritte gleichsam häckseln. Und zwischendurch mischt sich eine gehaltene elegante Arabesque ein. Das alles fliegt grandios getanzt dahin in Soli- oder Gruppenformationen.
Dann die drei Gäste, die jeweils fürs Staatsballett choreografierten, alle drei mit erstaunlich viel kreativer Profi-Erfahrung, überdies international unterwegs: Nicolas Paul, hervorgegangen aus dem Ballett der Pariser Oper, kreierte „L’ éternité immobile“. Der Spanier Fran Diaz, zuletzt Tänzer bei Goecke in Hannover, entwarf „The Habit“. Marion Motin studierte die erste Sequenz ihrer Arbeit „Le grand sot“ (Der große Depp) von 2021 ein. Dabei fällt auf: Alle jeweils vom Band zugespielten Musiken, ob „Sinnerman“ von Nina Simone oder John Taveners geistliche Komposition „The hidden Face“, geben nie im traditionellen Sinn den Takt vor, sondern liefern unabhängig Tempo, Rhythmus und Atmosphäre. Auffallend ebenfalls, dass hier keine Solist-Gruppe-Hierarchie existiert – nur noch die tänzerisch bewegte Gemeinschaft. Last not least: an diesem Abend herrscht – sichtbar zur Freude des Ensembles – durchgehend eine Freiheit der Bewegung, von der (Neo-)Klassik bis zur Bodenakrobatik, von olympiareif herumquirlenden Pirouetten bis zu ausgefeilter roboterähnlicher Gestensprache. All dies sind nun keineswegs Neuigkeiten im zeitgenössischen Ballett und Tanz. Aber mit der hier getroffenen Choreografen-Auswahl fällt diese Entwicklung zu einer Formen-Pluralität besonders ins Auge.
Natürlich hat jedes Stück dennoch seinen eigenen Charakter, inspiriert von einer Grundidee. Bei Nicolas Paul ist es die Wahrnehmung der Zeit, die er einzufangen sucht in vielfach gedoppelten Schattenbildern seiner acht Staatsballettler auf großer Leinwand. Mit einer anderen Achter-Crew lockt uns Fran Diaz in eine befremdliche psychedelische Stimmung. In beiden Kreationen entwarf der Münchner Christian Kass magisches Licht. Marion Motin holt uns dann zurück in die Realität. Ihr Zwölfer-Team wandelt Ravels berühmten „Boléro“ zur – ja echt! – Streetdance-Show. Hinreißend urkomisch!