Es ist 20.58 Uhr, als der Königsplatz nicht mehr derselbe Ort ist. Es ist Slipknot-Zeit. Nur für knapp eineinhalb Stunden, aber die sind Intensivstation. Schmerzhaft, fordernd, irgendwie auch heilend. Ein emotionaler Grenzgang. Man kann sie lieben oder hassen, aber ein Ereignis sind Slipknot allemal. Die Band aus Iowa ist schwer zu greifen. Musikalisch, textlich. Eine ständige Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn.
Ja, bei Slipknot geht es nicht um die schönen Dinge des Lebens. Es geht um innere Verzweiflung, den täglichen Kampf um Anerkennung und Selbstfindung. Und darum, sich nicht zu ergeben, nur weil man nicht in gesellschaftliche Normen passt. Es geht um die Dinge, die offenbar mehr Menschen quälen, als man glaubt – und Slipknot haben dafür die perfekte Musikwelt erschaffen. Wie ein überdimensionaler Presslufthammer reißen sie Fassaden nieder.
Sind die „Maggots“ (Maden), wie Sänger Corey Taylor seine Fans nennt, alles Verrückte? Oder steckt ein Stück Wahnsinn nicht in den meisten von uns? Vielleicht tragen die Bandmitglieder auch deshalb Masken. Eine Reduzierung auf Gefühle statt Personenkult. Eines ist sicher: Die Slipknot-Made hat viele Gesichter. Metal-Fans in Tour-Shirts, aber auch jede Menge adrett gekleidete junge Menschen, die getrost als Harry-Styles-Fans durchgehen würden. Sie alle flippen komplett aus, wenn Corey Taylor im grandiosen „Duality“ singt: „I push my finger into my eyes, it‘s the only thing that slowly stops the Ache“ (Ich drücke meine Finger in meine Augen, das ist das Einzige, was den Schmerz langsam stoppt). Inneres Aufräumen ist angesagt, abrechnen mit allem, was der Alltag zwischen zwei Slipknot-Konzerten so an seelischem Müll aufhäuft.
Die Setlist ist durchaus überraschend. Nur zwei Songs vom neuen Album („The Dying Song“ und „Yen“), dafür hauen Slipknot sechs Titel vom gleichnamigen legendären ersten Langspieler aus dem Jahr 1999 raus. Dazwischen eine Zeitreise durchs bald ein Vierteljahrhundert existierende Slipknot-Universum. „The Blister exists“ ist der perfekte Türöffner. „Psychosocial“, „The Devil in I“, „Wait and bleed“, „Unsainted“, „Purity“ – die Schädeldecken-Explosion nimmt ihren Lauf. Nur das ruhigere „Snuff“ lässt einen kurz Luft holen. Die Bühne ein Mix aus Feuer und Farbenexplosion, der Sound knochenbrecherisch, die Musiker präzise. Wer nach dem Rausschmiss von Craig Jones der neue Mann am Keyboard ist, bleibt weiter ein Geheimnis. Und dass der „Clown“, das letzte verbliebene Gründungsmitglied, wegen einer Erkrankung seiner Frau die Tour verlassen hat, hinterlässt eine Lücke.
Aber am Ende knien Münchens Maden nieder. Beim letzten Song („Spit it out“) schickt Taylor die Fans auf den Boden. Es folgt eine Explosion der Emotionen. Körper und Hände schießen nach oben, die Maden heben ab. Dann hat einen das Leben wieder. Oder war das Leben gerade?