Solche Sätze möchte man in keinem Schulaufsatz lesen. „Jemand ist vor Hunger in Ohnmacht gefallen. Das ist nichts Neues für mich. Habe ich schon oft gesehen.“ Notiert von einer Schülerin, 14 Jahre alt. Oder: „In meinem Kopf gibt es nur eine Frage: Warum müssen wir so sehr leiden?“, aufgeschrieben von einem Schüler, 14 Jahre alt. Oft dreht sich einem der Magen um, trifft es einen tief ins Herz beim Besuch der neuen Ausstellung im Münchner NS-Dokumentationszentrum. Dann möchte man die Augen verschließen, die Ohren verstöpseln und so tun, als gäb’s beispielsweise diese Berichte der Kinder aus dem Warschauer Ghetto nicht. Das geht aber nicht. Denn es gibt sie. Weil es ihn gab: diesen für den menschlichen Verstand kaum fassbaren Wahnwitz, diese Widerwärtigkeit. Dieses Schlimmste, was Menschen einander zufügen können. Im Warschauer Ghetto war das Grauen allgegenwärtig, das die Nationalsozialisten denen, deren Leben sie als unwert missachteten, angetan haben.
Eingerichtet im Herbst 1940 von den deutschen Besatzern für alle jüdischen Bewohner der polnischen Metropole. Fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung eingepfercht auf rund 2,4 Prozent der Stadtfläche. Hungernd, stinkend, krank. Wer trotzdem überlebte, wurde ab Juni 1942 „umgesiedelt“ – euphemistischer Nazi-Sprech für die Deportation von Hunderttausenden in eines der vielen Vernichtungslager.
Die Menschen, die kaum mehr als solche zu erkennen sind, wissen, was ihnen droht: „Es besteht die Gefahr, dass sie uns jederzeit zur Schlachtbank führen können“, schreibt einer in sein Tagebuch. Und legt so Zeugnis ab von dem Grauen. Für die, die sich erdreisten, den Holocaust zu leugnen, vor allem aber, um den Opfern eine Stimme zu geben, sind Aufzeichnungen wie diese nun im NS-Dokumentationszentrum ausgestellt. Wer die Schau, die zusammen mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum Warschau konzipiert wurde, betritt, sollte gewappnet sein. Der Besuch ist wie ein Schritt hinein ins Ghetto. Hier erzählen keine Zeitzeugen aus ihrer Erinnerung oder Historiker, die das alles am Schreibtisch recherchiert und aufgeschrieben haben. Hier sprechen die Opfer im Moment des Geschehens.
Emanuel Ringelblum und rund 60 Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben während der Zeit im Ghetto gesammelt: Tagebücher und Berichte, Briefe, Lebensmittelkarten, Fotos und Zeichnungen. Hinter allem steckt eine Geschichte. Wie hinter dem Papier der Bonbons, die Kinder verkauften, um irgendwie ein paar Pfennige zusammenzubringen. In der Hoffnung auf Hilfe von anderen abgemagerten Bewohnern, in deren Taschen der schlackernden Hosen ja doch nichts war, was sie den Kindern mit knochigen Händen hätten reichen können.
Ringelblum und seine Gefährten der geheimen Forschungsgruppe Oneg Shabbat („Freude des Sabbat“) haben ihr Leben riskiert, diese Erinnerungen zu bewahren. Ihre Aufzeichnungen präsentieren uns eine Innenansicht des Ghettos aus jüdischer Perspektive, das macht diese Ausstellung so besonders. Die Geschichte wird hier nicht von Außenstehenden geschrieben, sondern von den Opfern im Moment der Katastrophe. Sie haben die Shoa unmittelbar dokumentiert, unverfälscht, ungeschönt. Das ist manchmal kaum zu ertragen, wirkt deshalb umso stärker nach.
Nicht nur das Leid, der Schmerz, das Hauen und Stechen um ein paar Bisse Brot, einen Löffel der wässrigen Grütze. Auch der Zusammenhalt in einer Umgebung, in der tote Körper verhungerter Kinder in den Straßen ein alltäglicher Anblick waren. Es beeindruckt tief, wie inmitten der Unmenschlichkeit Humanität spross, als hauchzartes Pflänzchen der Hoffnung zwischen den Ghettomauer-Ziegeln.
Nur drei der Gruppe Oneg Shabbat haben überlebt. Weil das Ghetto vollständig zerstört wurde, fiel es schwer, den Schatz, den sie in Blechkisten unter der Erde vergraben hatten, zu bergen. Es ist geglückt. Ein Großteil, rund 35 000 Seiten, konnten nach dem Krieg aus den Ruinen gerettet werden. Und wurden im Prozess gegen die NS-Täter wichtige Beweismittel. In Warschau werden sie bewahrt, seit 1999 als Teil des Unesco-Weltkulturerbes.
„Ich bin glücklich, dass wir sie nun in München zeigen können, der Stadt, in der die Philosophie, die zum Massenmord führte, entwickelt wurde“, sagt Monika Krawczyk aus Warschau. Die Schau in München sei ein weiterer Schritt, die Mission der mutigen Männer und Frauen fortzuführen: „Die Welt wissen zu lassen, was passiert ist.“ Auch wenn es wehtut.
Bis 7. Januar 2024
im NS-Dokumentationszentrum; Di.-So. 10-19 Uhr.