„Ich muss nicht mehr alles machen“

von Redaktion

Christian Thielemann über sein BR-Gastspiel, Berlin und den Sommer ohne Bayreuth

Er selbst nennt es „Halb-Debüt“. Zwar hat Christian Thielemann das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks schon im April 2021 dirigiert. Doch damals Corona-bedingt in kleiner Besetzung und vor leerem Saal. Heute und morgen liegt im Herkulessaal Anton Bruckners fünfte Symphonie auf den Pulten, am 8. Juli bestreitet der 64-Jährige mit dem Ensemble „Klassik am Odeonsplatz“. Eine Begegnung in München.

Es gibt Dirigenten, die denken bei Bruckner an Berge und Täler. Was hat die Musik mit seiner österreichischen Heimat zu tun?

Auch in der fünften Symphonie kommt ja eine Art Ländler vor, das ist sicherlich pures Österreich. Ich denke bei Bruckner allerdings immer an Weite. An Masuren, an Ostpreußen. An lange Alleen mit 300 Jahre alten Bäumen. Ich weiß gar nicht, ob Bruckner viel mit Bergen zu tun hat. Dafür aber mit der flächigen Klangwelt einer Orgel. Und ich als Interpret habe die Aufgabe, einen durchsichtigen Orgelklang herzustellen.

Inwieweit haben Bruckners Symphonien überhaupt etwas Außermusikalisches? Die Fünfte wird ja wegen des Choralthemas auch als „Glaubenssymphonie“ tituliert. Ist das klingende Religion?

Man kann an viele Dinge glauben. Aber es geht hier nicht um eine Konfession – obwohl mir nach einer Probe im Herkulessaal die Idee gekommen ist, man müsste rüber in die Theatinerkirche gehen und eine Kerze anzünden. Ich höre in dieser Musik eine Konzentration auf das Wesentliche, auf den Glauben. Der Katholizismus weht sicher durch diese Musik. Und ich als Protestant bin davon fasziniert. An manchen Stellen im zweiten Satz sehe ich den Papst oder zumindest einen Kardinal vor mir. Ich spüre auch Ernst, Erhabenheit, aber eben nie ein kirchliches Dogma. Interessanterweise sind die großen Ausbrüche bei Bruckner nie leeres Pathos. Der griechische Begriff ist ja positiv besetzt und bedeutet Leidenschaft. Ein echtes Gefühl. Bruckner ist in jeder Note echt.

Das betrifft die Emotionalität, die erste Ebene dieser Musik. Gerade die Fünfte gilt aber auch als Wunderwerk der Struktur. Wie bringt man vor allem Ersthörern diese Komplexität nahe, die Doppelfuge im Finale etwa?

Indem man alles so spielt, wie es in der Partitur steht. Indem man alles gliedert. Aber muss ich als Dirigent jedes neue Thema nach dem Motto „Herr Lehrer, ich weiß was“ verdeutlichen? Nein. Am Schluss muss sich alles amalgamiert haben. Bruckner erzieht einen zum Disponieren. Das gesamte Finale der Fünften empfinde ich als einen perfekten Bau. Bruckner führt alles vor, was man vorführen kann. Er versetzt Themen, spiegelt sie, fragmentiert sie, überrascht mit harmonischen Wendungen. Und er will sehr viel piano, sehr viel pianissimo. Bei seinen Fortissimi müssen Sie immer daran denken: Er hat damals für ein Orchester geschrieben, in dem die Streicher auf Darmsaiten spielten und die Holzbläser längst nicht so gut ausgebildet wie heute waren. Wenn Bruckner also Fortissimo verlangt, ist das auch eine Aufforderung à la „Nun gebt mal alles, was ihr habt“. Das hat nichts mit Ohrenbetäubendem, sondern mit Intensität zu tun. Denken Sie auch an Mahlers Dritte. Die fängt an mit acht Hörnern im Fortissimo. Wenn man das BR-Orchester da entsprechend loslässt, sind Sie nach fünf Takten taub.

Sie haben recht früh mit Bruckner begonnen. Was haben Sie anfangs falsch gemacht?

Ich war zu langsam. Ich war von meiner eigenen Ergriffenheit gefangen. Andererseits: Wenn ein Orchester sehr schön spielt, lasse ich mich noch immer verführen. Ich denke allerdings immer an Bruckners Vorschrift im Adagio der Achten: „Feierlich langsam, doch nicht schleppend.“ Darum geht es.

Und warum will man Bruckner ständig von den Altstars wie früher Günter Wand und jetzt Herbert Blomstedt hören?

Klar geht es dabei auch um Reife. Aber als Dirigent muss man durch dieses Repertoire durch. Man muss früh scheitern dürfen, damit es später klappt. Ich will Bruckners Fünfte nicht unbedingt von einem 25-Jährigen dirigiert hören, aber er muss es tun.

Bruckner ist einer Ihrer Leib- und Magenkomponisten, wie kommen Sie bei „Klassik am Odeonsplatz“ in der Woche darauf dann ausgerechnet auf ein reines Verdi-Programm?

Es denken immer alle, dass ich so was nie dirigiert habe. Aber ich hatte ja vor der Wagner-Bruckner-Zeit ein Vorleben. Und das bestand aus Operette, Spieloper wie „Zar und Zimmermann“, Verdi und allen möglichen Konzerten mit kleinen Schmankerln. Dieses Verdi-Programm verdanke ich Bruno Cagli, dem Präsidenten der römischen Accademia di Santa Cecilia. Mit dem Orchester war ich vor 30 Jahren zu einem Verdi-Festival in Parma eingeladen. Drei irre konzipierte Ballettmusiken, in denen auch etwas Requiemartiges widerhallt. Und dazu kombiniert man Hochspirituelles wie das Chorwerk der „Quattro pezzi sacri“ quasi als Vorgeschichte. Außerdem habt Ihr hier in München den allerbesten Chor überhaupt, das passt also perfekt.

Sie sind nicht mehr am Grünen Hügel engagiert. Was machen Sie diesen Sommer ohne Bayreuth?

Ich reise nach Sylt. Außerdem mache ich das Brahms-Requiem in Salzburg und fahre an den Attersee. Der Kollege Franz Welser-Möst wohnt dort ja drei Häuser weiter, vielleicht rufe ich ihn an und wir gehen mal zusammen schwimmen.

Müssen Sie den Verzicht auf Bayreuth erst lernen?

Jein. Diesen Sommer ist es ja so, dass unmittelbar danach die Staatskapelle Dresden groß ihren 475. Geburtstag feiert. Da gibt es also genügend zu tun. Andererseits: Ich wollte schon immer mal im August nach Sylt. Dort ist es dann zwar voll, aber die Nordsee hat eine erträgliche Temperatur. Ich bin kein Hardcore-Bademensch, ich bin Warmduscher. Außerdem kann ich mich dort in aller Ruhe in die Walzer fürs nächste Neujahrskonzert einlesen.

In unserem letzten Gespräch meinten Sie: „Ich muss nicht irgendwo Chef sein.“ Also könnten Sie auf die Berliner Staatsoper locker verzichten, wo Sie schon alle Welt als Nachfolger von Daniel Barenboim sieht?

Ich muss wirklich nicht. Aber Sie wissen doch, was Adenauer gesagt hat: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern.“ Bei mir ist es so: Ich wache morgens auf und weiß plötzlich, wie der Übergang in einem Symphoniesatz funktioniert. Ich verlasse mich auf meine Intuition. Und bin bei allen Chefpositionen damit gut gefahren. Als ich in Nürnberg Generalmusikdirektor war, hatte ich ein Japan-Gastspiel mit der Deutschen Oper Berlin, danach bahnte sich was an. Als ich dann Chef in Berlin war, dirigierte ich irgendwann die Münchner Philharmoniker und kam schließlich an die Isar. Und als ich hier GMD war, sprang ich mal bei der Dresdner Staatskapelle ein. Im vergangenen Herbst habe ich an der Berliner Staatsoper den „Ring“ von Daniel Barenboim übernommen. Wir werden sehen. Es kommt auch auf die Gesamtsituation an. Außerdem habe ich nicht mehr die Gier, alles zu machen. Die Wiener Philharmoniker sagen immer, wenn ein neuer Dirigent kommt: „Es muss halt passen.“ Ich kümmere mich zum Beispiel jetzt verstärkt um den Dirigenten-Nachwuchs.

Demnach lesen wir bald öfter „Meisterklasse mit Christian Thielemann“?

Kann sein. Ich möchte den jungen Kollegen gern ein paar Ratschläge geben. Damit habe ich schon in Dresden angefangen, ich habe auch Studenten in Weimar. Das will ich verstärken. Wir alle, die wir die großen Orchester dirigieren dürfen, müssen diese Erfahrungen weitergeben. Ich saß früher bei Karajan in der Probe, dachte „Das kann ich auch“ – und habe erst mal jämmerlich versagt. Mir macht zum Beispiel Freude, wenn ich Repertoire-Tipps gebe. Die Anfänger dürfen sich für nichts zu schade sein. Sie müssen Operette, Musical, Spieloper, einfach alles dirigieren und am Klavier von „Dunkelrote Rosen“ bis zur „Christl von der Post“ alles begleiten können. Ihr müsst Euch immer überlegen: Die Operetten wurden geschrieben für die großen Stars, das wären heute Künstler wie Anja Harteros, Piotr Beczala oder Georg Zeppenfeld. Die Flexibilität, die man dort als Dirigent lernt, diese innerliche Freiheit, all das hilft einem später enorm weiter. Als wir in Bayreuth Kurse angeboten haben, musste man Ausschnitte aus den „Meistersingern“, aber auch aus „Zar und Zimmermann“ dirigieren. Man muss lernen, wie man Spieloper und Operette geschmackvoll dirigiert. Das ist das Allerschwerste. Ich habe außerdem viel gelernt durch die Wiener Walzer. Und dieses Stilbewusstsein, diese Natürlichkeit braucht auch Bruckners Fünfte.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

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