Bevor man sich Gedanken über die Interpretation macht, registriert man da diesen Wettbewerb. Ein sich Aufschaukeln über 85 Minuten. Weil Christian Thielemann spürt, was und wie viel er von diesem Ensemble verlangen und wie er es an Grenzen treiben kann, auch an die zur Unhörbarkeit. Und weil das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks folgt mit einer Mischung aus Hingabe und Selbstbewusstsein: Wollen wir doch mal sehen, ob wir Bruckners Fünfte nicht besser, intensiver, erfüllter als die Wiener Philharmoniker oder die Staatskapelle Dresden spielen, als jene Truppen, mit denen Thielemann sonst seine Bruckner-Konzerte bestreitet.
Es wird ein Abend für die Annalen im Herkulessaal. Ein Ausdrucksextremist trifft auf ein zu allem entschlossenes Orchester. Alle gehen auf maximales Risiko. Schon im Kopfsatz wagt man Pianissimo-Stellen bis zur Klangabrisskante. Überhaupt scheint es, als ob sich Thielemann nicht wie die Kollegen von Höhepunkt zu Höhepunkt, sondern vom Flüstern zum Raunen hangelt. Langsamer als sonst bei ihm gerät der erste Satz, was in diesem Saal nichts macht. Die Intimität verhindert, dass die feine Puzzlearbeit verpufft.
Später, im zweiten Satz, fordert Thielemann einmal ein heftiges Streicher-Aufrauschen, wie man es an dieser Stelle so nie hört. Und man versteht: Das sind die eigentlich wichtigen Momente, die dramatischen Nachdruck brauchen, die Eruptionen laufen bei Bruckner ja fast von selbst.
Dies alles geht an die Kondition, auch das hört man in der ersten Hälfte. Zumal Thielemann nur selten die Zügel loslässt. Bei Bruckner bleibt er ganz Ästhet. Wo andere Abgründe klaffen lassen, baut er Brücken. Wo sonst Blöcke nebeneinander stehen, entwickelt er Übergänge. Und wo sich sonst schrundige Klangfelsen aufbauen, geht Thielemann mit der Poliermaschine drüber. Das mag die inneren Kämpfe der fünften Symphonie etwas abschwächen. Aber so vollkommen logisch und natürlich, so schlüssig in den Tempo-Relationen baut derzeit kein anderer dieses Werk zusammen. Und trotzdem ist da nichts akademisch: Wie immer bei Thielemann erlebt man einen Lustmusiker mit Instinkt für Architektur.
Gerade im Finale, dank seiner gewaltigen Doppelfuge ein Fest für Nerds und Musikwissenschaftler, nimmt er auch den Unwissenden mit. Wer will, könnte alles mitschreiben, so klar und durchhörbar spielt sich das ab. Bis hin zum atemberaubend gesteigerten Durchbruch des Choralthemas. Das driftet nicht ins katholische Lärmen, sondern ist tatsächlich alles überwölbender Höhepunkt.
Interessant dabei: Thielemann dirigiert erstmals im Herkulessaal. Sein Debüt beim BR-Symphonieorchester vor drei Jahren musste er Pandemie-bedingt im leeren Gasteig bestreiten. Jetzt, beim eigentlichen ersten BR-Auftritt vor Publikum, erlebt man, wie sich jemand innerhalb einer dreitägigen Probenzeit nahezu perfekt auf die Akustik, vor allem auf die Möglichkeiten des Herkulessaals eingestellt hat. Das Orchester, das immer noch vom eigenen Konzerthaus träumt, wird das nicht gern hören. Aber so wird der oft geschmähte Herkulessaal zu einem der besten Klang-Orte weit und breit.
Aufzeichnung
im Internet unter
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