Die Spur der Steine

von Redaktion

Sensationsfund an der Großhesseloher Brücke: Fragmente der einstigen Münchner Hauptsynagoge entdeckt

VON MICHAEL SCHLEICHER

Wer die Quellen liest, kann die Begeisterung erahnen, die 1887 in München geherrscht haben muss ob des neuen Bauwerks an prominenter Stelle. Und wer wiederum von dieser Historie weiß, dem ist auch klar, was heute nun jener Fund bedeutet, den Arbeiter vor wenigen Tagen an der Isar unweit der Großhesseloher Brücke gemacht haben – für die Jüdische Gemeinde, für die Münchner Stadtgeschichte.

Doch bleiben wir noch für einen Moment am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Zeitungen schrieben damals von einer „köstlichen Perle“, Vertreter von Stadt und Staat wollten bei der Eröffnung der Synagoge an der Herzog-Max-Straße genauso dabei sein, wie nicht-jüdische Münchner Bürger einen Blick ins Gebäude werfen wollten. Einer der ersten Gäste war Prinzregent Luitpold, der bereits zwei Monate vor dem Festakt vorbeischaute und seiner „Anerkennung über die Großartigkeit des Bauwerkes rückhaltlosen Ausdruck“ verlieh, wie der Stadtchronist gewissenhaft notierte.

Keine Frage: Münchens Hauptsynagoge, die seit den 1860er-Jahren geplant und mit deren Bau am 14. Februar 1884 begonnen worden war, bescherte nicht nur der Gemeinde den dringend benötigten Platz. Das Gebäude selbst war eine Attraktion und fortan ein architektonisches Aushängeschild. Es sollte jedoch nur ein halbes Jahrhundert existieren; im Sommer 1938 folgte der Abriss. Hitler selbst hatte den Befehl erteilt, nachdem er am 7. Juni 1938 im benachbarten Künstlerhaus war. Mit den Arbeiten wurde die Firma Leonhard Moll beauftragt; ein Parkplatz ersetzte schließlich das Gotteshaus.

Vergangenen Freitag wurden nun Teile der Synagoge bei der Großhesseloher Brücke entdeckt. „Das ist heute ein Blick über drei Generationen in die Vergangenheit“, sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Ich hätte wirklich nicht damit gerechnet, dass Fragmente der alten Hauptsynagoge erhalten sind, geschweige denn damit, dass wir sie zu Gesicht bekommen. Das ist alles noch sehr unwirklich.“

Der Münchnerin, Jahrgang 1932, ist die Überraschung anzumerken: „Das Kulturreferat hatte eine starke Vermutung bezüglich der Herkunft, als ich über den Fund informiert wurde. Als ich die ersten Fotos gesehen habe, gab es für mich keinen Zweifel mehr: Diese Steine sind ein Teil der jüdischen Geschichte Münchens.“

Knobloch hatte das Gotteshaus als Kind zusammen mit der Großmutter besucht. „Das Gebäude erschien mir damals natürlich riesig.“ Tatsächlich gab es in der Synagoge, die jene an der Westenriederstraße ersetzen sollte, 1000 Betstühle für Männer und 800 für Frauen. Bauzeit: drei Jahre; die Pläne stammten von Albert Schmidt (1841-1913). Der Architekt, der in München etwa auch den Löwenbräukeller und die St.-Lukaskirche (hier ist die einheitliche Handschrift besonders augenfällig) verantwortete, überzeugte mit seinem Entwurf im neuromanischen Stil die Gemeindevorderen. Ein zähes Hin und Her mit dem Stadtmagistrat gab es übrigens bei der Suche nach einem Bauplatz – bis König Ludwig II. im Jahr 1882 in die Debatte eingriff und gegenüber der Maxburg eines der begehrten innerstädtischen Grundstücke für 348 000 Mark bereitstellte.

Der Sensationsfund von der Isar schließt jetzt eine Lücke in der Stadtgeschichte: „Ich lege seit jeher Wert auf die Feststellung, dass unsere Kultusgemeinde im Sommer 1945 nicht neu-, sondern wiedergegründet wurde. Die Traditionslinie geht zurück bis 1815“, sagt Knobloch. Dennoch sei klar, dass die Gemeinde nach 1945 eine andere war als vor der Nazi-Zeit. „Alle Relikte, die aus dieser alten Zeit kommen, sind deshalb besonders wertvoll, und für sichtbare Reste unserer alten Hauptsynagoge gilt das noch mehr. Ich freue mich darauf, dass sie in die Gemeinde zurückkehren und uns ein Stück der eigenen Geschichte zeigen.“

Artikel 6 von 7