Die Amazone vor Franz von Stucks Villa schleudert jetzt ihren Speer für die Freiheit – auch für die Freiheit der Einwanderung. Ein weißes Banner zitiert ein leider nicht übersetztes englischsprachiges Gedicht von Emma Lazarus (1849-1887), die sich für Spenden engagiert hatte, damit die Freiheitsstatue überhaupt auf einem Sockel stehen konnte. Es sind solche mal große, mal winzige Eingriffe in Stucks Repräsentationsheim, die Heidrun Sandbichlers Ausstellung „Nachtgesang“ ausmachen (Kuratorin: Helena Pereña). Manches zeigt sich offen, anderes verschwindet fast oder muss gesucht werden.
Ähnlich ist es um die „Hintergedanken“ von Sandbichlers Werken bestellt. Das Publikum hat die Wahl, sich eigene Geschichten auszudenken, denn eine Beschriftung gibt es nicht. Oder man greift zu der informativen Begleitbroschüre. Sie enthält gewissermaßen die Schatzkarten, die durchs Haus und in den Garten führen. Dort haben sich Maulwürfe ausgebreitet. Aber nein, die Häufchen sind Bronzeskulpturen. Und unter die Römische Wölfin hat man eine Nachttischlampe mit schiefem Schirm gestellt. Aber nein, der ist ein tatsächlich versteinerter Pileus, der gut zur Raubtierhaftigkeit der antiken Stadt passt: Die Mütze trugen freigelassene Sklaven.
Die Österreicherin (Jahrgang 1970), die in Rom lebt, kontrastiert still verschmitzt Alltägliches, das niemand wahrnimmt, mit Stofflichkeiten der „hohen“ Kunst. Dazu passt, dass sie Stucks Prachträume teilweise entzaubert. Im golden schimmernden Salon ist nichts – außer einem banalen braunen Kuvert auf dem Tisch neben einem weißen Blatt mit einer Liste. Niemand nähme das als Kunst zur Kenntnis, wenn wir nicht die „Schatzkarte“ hätten. Sie berichtet von Max Nettlau (1865-1944), der jene Liste, die „Bibliographie de l´ Anarchie“, 1897 zusammengestellt hatte. Es sind die Vergessenen, es ist das Verdrängte, das nie Gewusste, all das, was Heidrun Sandbichler meist heranzieht, ohne nur annähernd propagandistisch sein zu wollen.
Es gibt da eine Tischvitrine mit 19 schönen, alten, mächtigen Schlüsseln aus Sant’ Anna di Stazzema. Wer hat schon präsent, dass die SS 1944 dort mehr als 500 Zivilisten abschlachtete? Die Künstlerin achtet die Stille der Spuren, der Indizien. Man muss nicht in sie hineinhören. Wer das trotzdem will, braucht Zeit. Wie beim Schreiben und Lesen, das ja Erinnerungen, Informationen festhält und weitergibt. Deswegen begegnen wir in der Schau immer wieder schwarzer Tinte: ob als Zeichnung, ob als Flüssigkeit in einer Spritze, ob als erstarrtes Magma auf einer alten Karte, ob ausgehärtet als Narwalzahn, ob als Schwarz-Wasser im Aquarium.
Deutlicher wird Sandbichler, wenn sie Kapitalismus und Krieg samt Naturausbeutung oder Menschenverachtung thematisiert; da werden Zeitschriften und Zeitungen sowie Fotografien von sezierten „Kranken“ unter dem Titel „Die geistigen Epidemien. Das Feuer. Der Tod“ präsentiert. Hier wird das häufige Motiv des Gefangenseins und der Korrekturanstalt variiert. Es kann zunächst als minimalistische Skulptur daherkommen wie die zwei ineinander gesetzten Gitterkreise im Vestibül. Sie fügen sich elegant in die Geometrie des schwarz-weißen Mosaikbodens ein. Und doch: Heidrun Sandbichler nennt das „Eine Arbeit zur allgemeinen Theorie der Dressur“. Dass es im Hintergrund den Bezug zu einer historischen Idee vom „idealen“ Gefängnis gibt, ist bei ihr ohnehin klar.
Immerhin beweisen all die Werke, dass die Kunst viele Auswege aus Gefangenschaften aller Art eröffnet. Mit Fantasie und Humor, die die Dressur unterlaufen und das Gewohnte umstülpen.
Bis 1. Oktober,
Di.-So. 11-18 Uhr, am ersten Fr. im Monat bis 11-22 Uhr; Telefon 089/45 55 510.