Der Mann zwischen den Welten

von Redaktion

NACHRUF Trauer um den Schriftsteller Milan Kundera, der im Alter von 94 Jahren verstorben ist

VON SABINE DULTZ

Selbst wer nie eine einzige Zeile von ihm gelesen hat, den Titel eines seiner Romane aber kennt jeder: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Milan Kundera, am 1. April 1929 im tschechischen Brünn geboren, ist am Dienstag mit 94 Jahren in seiner zweiten Heimat Paris gestorben.

Der 1984 erschienene Roman machte seinen Autor weltberühmt. Er erzählt darin die Geschichte des Liebespaares Tomas und Teresa zur Zeit der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in Prag 1968, von der blutigen Zerschlagung des Prager Frühlings, der Wiederherstellung des UdSSR-hörigen Regimes, von der Emigration des Paares in die Schweiz und der Rückkehr in die damalige CSSR. Dort folgte die nachträgliche Bestrafung für den Gang in den Westen: Tomas durfte nicht mehr als Arzt arbeiten. Klappriger Lkw und Kuhstall – die landwirtschaftliche Genossenschaft wurde ihr Leben. Trauer und Glück gleichermaßen.

„Die Trauer war die Form, und das Glück war der Inhalt. Das Glück füllte den Raum der Trauer aus“, lautet Kunderas Fazit. „Was ist positiv, das Schwere oder das Leichte?“, fragt er am Anfang des Romans und führt uns im Verlauf der knapp 300 Seiten durch das bunte, tragikomische, von der Politik geprägte Leben. Ein Roman, den man, einmal gelesen, nie vergisst.

Milan Kundera, Sohn eines Musikwissenschaftlers, hatte Musik in Prag studiert und an der Filmakademie, deren Dozent er später wurde, Regie und Drehbuch. Er war zweimal Mitglied der Kommunistischen Partei, nachdem er einmal rausgeworfen und ein paar Jahre später wieder aufgenommen wurde, bis 1970 der endgültige Rausschmiss erfolgte. Kundera war kaltgestellt. Und so kehrte er 1975 von einer Einladung der Universität Rennes nicht mehr nach Prag zurück. Drei Jahre später zog das Ehepaar Kundera nach Paris. Die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt. Und 1981 erhielt er die französische. 1995 schrieb Kundera seinen ersten Roman auf Französisch.

Wenn nun auch das neue Leben in Frankreich im Mittelpunkt stand, ging es ihm nach wie vor um das einzelne Individuum in seinem Umfeld. Mit alter Meisterschaft brachte er die Küsse der Liebenden mit der Kritik am gesellschaftspolitischen Leben zum Leuchten. 2008 erschütterte die Veröffentlichung eines tschechischen Historikers die internationale Literaturwelt mit der Behauptung, dass der junge Milan Kundera 1950 einen Antikommunisten der Polizei ausgeliefert habe. Beweise und Gegenbeweise sowie der Widerspruch des Schriftstellers ließen die Sache schließlich im Sande verlaufen.

Im 1998 erschienenen Roman „Die Identität“ lässt Kundera seinen Protgonisten Jean-Marc sagen: Er habe den „einzigen Sinn von Freundschaft (…) begriffen. Der Mensch ist auf sie angewiesen, damit sein Gedächtnis funktioniert. Sich an seine Vergangenheit zu erinnern, sie immer bei sich zu haben, ist vielleicht die notwendige Voraussetzung dafür, die Integrität seines Ichs zu wahren.“ Erforderlich sei dafür der regelmäßige Kontakt mit Zeugen der Vergangenheit, das heißt mit Freunden. „Sie sind unser Spiegel, unser Gedächtnis.“

Man darf sicher sein, dass Kundera solche Freunde anlässlich der Anschuldigungen hilfreich zur Seite gestanden haben. Seit 20 Jahren war Kundera Franzose, doch die Frage nach der tschechischen Identität ließ ihn nicht los. In seinem Roman „Die Unwissenheit“ (2001) reist die seit zwei Jahrzehnten in Paris lebende Irena wieder nach Prag. Sie muss feststellen, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Ihr Dilemma: Für die Franzosen ist sie immer die Emigrantin, für die Tschechen nur die Heimkehrerin. Dieses Prag ist nicht mehr ihre Heimat, und Paris will ihre Heimat nicht sein.

Eine gewichtige Rolle spielt hier auch Kunderas Auseinandersetzung mit dem Kommunismus: „Heute wenden die Leute sich nicht vom Kommunismus ab, weil ihr Denken sich geändert, einen Schock erlitten hat, sondern weil der Kommunismus nicht mehr die Gelegenheit liefert, sich nonkonformistisch zu zeigen, noch die Gelegenheit zu gehorchen. Die kommunistische Überzeugung genügt keinem Bedürfnis mehr. Sie ist derartig unbrauchbar geworden, dass alle sie leicht aufgeben, sogar ohne es zu merken.“

Ebenso klug und wunderbar Kunderas Europa-Einschätzung. In seinem Buch „Der Vorhang“ (2005), in dem er einen Blick auf die Weltliteratur wirft, heißt es: „Was eines Tages von Europa bleiben wird, ist nicht seine sich wiederholende Geschichte, das einzige, was Chancen hat zu bleiben, ist die Geschichte seiner Künste.“ Und der große Milan Kundera wird dazu gehören.

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