Und wenn man dann durch die Berge zurück nach München rollt, in Gedanken noch ganz bei Momo, den grauen Herren und Schildkröte Kassiopeia, weiß man, was man am Abend wieder aus dem Bücherregal ziehen wird. Michael Endes „Momo“. Die Taschenbuch-Ausgabe, ein bisserl zerfleddert, weil sie schon die eigene Mutter als Kind gelesen hat. Der Untertitel ist zugleich eine Zusammenfassung dieses gar nicht so leicht zu fassenden Märchenromans: „Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“. 1973 erschien das Werk des großen Garmischer Autors Michael Ende (1929–1995) erstmals. Zum 50. Jubiläum feiert sein Heimatort Ende und „Momo“ mit einer liebevoll und klug kuratierten Schau. Im Museum Werdenfels ist ab jetzt „Geh doch zu Momo“ zu sehen. Solchen sprechenden Titeln sollte man Folge leisten.
Seit rund einem Jahr ist Constanze Werner Leiterin des Museums – und lässt ordentlich Frischluft herein. Im Eingangsbereich gibt es jetzt eine Leseecke. Hier kann man künftig nicht nur in Endes Werken, sondern auch in Büchern über die Region schmökern. Und damit einen Eindruck davon bekommen, wo sie herkommen könnte, Michael Endes schier grenzenlose Fantasie.
München und Oberbayern haben ihn sicherlich geprägt. Mehr noch aber das sehr vergeistigte Elternhaus, sein ständig schöpferischer Vater, der surrealistische Maler Edgar Ende (1901–1965). „Vater und Sohn waren zwei Charakterköpfe, die ein fast symbiotisches Verhältnis hatten“, sagt Floriana Seifert, die die Ausstellung mit Constanze Werner kuratiert hat. Seifert hat über Michael Ende promoviert und war viele Jahre mit der Arbeit am Archiv seines Nachlasses betraut. Sie weiß, wie Edgar und Michael Ende einander wechselseitig kreativ befruchteten. „Die Schriftstellerei und die Bildende Kunst, das waren für sie zwei Seiten einer Medaille.“
Sichtbar wird das besonders im letzten Raum, unter dem Dach des Hauses. Von der Galerie aus sieht man durchs große Fenster die Berge. Rechts hängen etliche Zeichnungen und Gemälde des Vaters, links zieht einen eine Medien-Installation von Gene Aichner hinein in die Gedankenwelt des Sohnes. Hier lässt Aichner die Grundideen aus „Momo“ in Bildern die Wände entlangfliegen. Zunächst Idylle: Kinderfüße, Seifenblasen, aufblühende Blumen. Doch jedem Werden wohnt schon das Vergehen inne. Die Bilder werden düsterer, alarmierende Sätze des Visionärs Michael Ende schweben vom Boden zur Decke. Dieser zum Beispiel: „Wir steuern auf den Dritten Weltkrieg gegen unsere Kinder zu.“ Das knüpft an die vielen Zitate an, die auf zehn Meter hohen Fahnen hinab ins Erdgeschoss hängen. Michael-Ende-Worte, der in seinem Werk Probleme wie Umweltverschmutzung, Auseinanderbrechen sozialer Strukturen, oberflächliche Kommunikation vorweggenommen hat. Themen, die uns heute mehr denn je betreffen. Vermutlich ist er deshalb noch immer derart populär. Seine Bücher wurden in 53 Sprachen übersetzt. Gerade wird an einer weiteren „Momo“-Verfilmung gearbeitet (wir berichteten).
Bewusst haben sich die Kuratorinnen gegen einen Audioguide entschieden. Die Besucher sollen nicht mit Kopfhörern auf den Ohren abgeschirmt jeder für sich durch die Schau stolpern. Sondern sich mit offenen Augen und Ohren ganz und gar der Poesie hingeben. Die Kleinen können in einer Kuschelecke Bücher lesen oder mit ihren Eltern Filme von Ende-Stücken des Düsseldorfer Marionetten-Theaters anschauen. Sie können in kurzen Texten die Biografien des Autors nachverfolgen. Und sich schließlich im obersten Raum niederlassen. Erst die Bilder betrachten und sich dann gedanklich treiben lassen wie Schildkröte Kassiopeia, die virtuell über den Boden kriecht. Plötzlich ist man wieder selbst ganz Kind. Sind da der lustige Straßenkehrer Beppo oder der liebe, aber auch ein bisschen angsteinflößende Meister Hora. Und einem wird klar, wie viel Zeit in der Sanduhr des eigenen Lebens bereits verronnen ist, seitdem man sie alle das erste Mal getroffen hat. Man sollte sie mal wieder hervorholen. Zeit wird’s.
Bis 7. Februar 2024
Ludwigstraße 47 in Garmisch-Partenkirchen; Di.-So. 10-17 Uhr. Telefon 08821/ 75 17 10.