Na ja, von „stören“ kann eigentlich nicht die Rede sein. Als am Freitagabend Aktivisten der Letzten Generation unvermittelt in den Publikumsreihen des Salzburger Festspielhauses aufspringen und brüllen: „Wir alle sind die letzte Generation!“, fühlt man sich als Zuschauerin weniger gestört als überrascht: Huch, ein unvorhergesehener Regieeinfall, wo kommt der denn plötzlich her?
Bis auf diese Protestaktion – die viele für einen Teil der Inszenierung halten – nämlich ist der Abend, diese dritte Auseinandersetzung von Michael Sturminger mit Hugo von Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“, eine recht fantasielose Angelegenheit. Wie schon in seinem ersten Salzburger „Jedermann“ 2017 gelingt es dem Regisseur nicht, dem frömmelnden Stück, mit dem sich der überzeugte Katholik Hofmannsthal (1874-1929) in der öffentlichen Wahrnehmung ein für alle Mal von seinen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, die Dringlichkeit herauszukitzeln. Und verständlich zu machen, warum man sich das Werk auch mehr als 100 Jahre nach der Uraufführung noch anschauen sollte – über die Lust an der Tradition hinaus.
Der „Jedermann“ bei den Salzburger Festspielen, das ist ja immer ein bisschen wie Christmette. Eigentlich glaubt keiner mehr so richtig an die dahinterliegenden Dogmen, faszinieren lässt man sich dann aber doch jedes Mal erneut von Weihnachtsbaum, Kerzenschein und Gesang respektive Domplatz, Glockenschlag und „Jeeedeermaann“-Rufen. Und wenn es richtig gut läuft, geht man geläutert heim durch die Salzburger Nacht, bedenkend, dass man sterblich ist. Zurückgeworfen auf die eigenen dürftigen Werke.
Richtig gut lief’s in den vergangenen beiden Jahren. Als Lars Eidinger sich die Titelrolle einverleibt hatte. Schwitzend und heulend und rasend vor Todesangst. Zusammen mit einer kongenialen Verena Altenberger als Buhlschaft gelang dem Ensemble Überragendes, nämlich: Dem „Jedermann“ eine Stimme zu verleihen, der man gebannt zuhört. Sie erzählten den Stoff von 1911 als Parabel auf die alten weißen Männer, die ihren Teil zu Krieg, Klimawandel, sozialer Ungleichheit beigetragen haben. Sie boten Antworten auf drängende Fragen. Eine, die heute noch unerbittlicher zu drängen scheint: Wie hinfinden zur Mitmenschlichkeit?
Sturminger beantwortet sie nicht. Ausgerechnet in seiner dritten „Jedermann“-Bearbeitung, in der er erzählen möchte, wohin wir in Zukunft steuern, fällt er deutungstechnisch zurück. Bietet seine Inszenierung keine neuen Perspektiven auf das alte Stück. Wäre auch zu viel verlangt. Sich zuzutrauen, innerhalb von sieben Jahren drei völlig neue Blicke auf ein und dasselbe Werk richten zu können, ist im Grunde überheblich. Man spricht ja gern vom Sieben-Jahre-Rhythmus, innerhalb dessen sich der Mensch psychisch und physisch erneuert. Um es so auszudrücken: Zwei, drei Häutungen hätte Sturminger je schon durchmachen dürfen, ehe er sich an die nächste Inszenierung wagte. Der beste Regieassistent heißt: Lebenserfahrung.
Viel mehr als Albernheiten – insbesondere Jedermanns Vettern (Bruno Cathomas/ Fridolin Sandmeyer) müssen derbe draufhauen – und noch mehr Einsatz von Musik – die bei der Premiere im Festspielhaus so schlecht ausgesteuert ist, dass etwa die Spielansagerin (Anja Plaschg) kaum zu verstehen ist – fällt Sturminger nicht ein.
Die Zukunft, die er sich ausmalt, spielt in einer verdorrten Landschaft (Bühne/Kostüme: Renate Martin, Andreas Donhauser). Wohl von den Folgen des Klimawandels? Das zumindest lassen die Aktivisten vermuten, die zu Beginn Jedermanns Haus mit Farbe besprühen. Diese Szene ist übrigens tatsächlich Teil der Inszenierung. Wirkt aber als Versuch, irgendwie einen Gegenwartsbezug herzustellen, arg bemüht. Sturminger verfolgt ihn denn auch nicht weiter. Der Punkt geht also an die Letzte Generation: Erst ihre Aktion hämmert einem ins Hirn, wozu die Ignoranz von jedermann und jederfrau führt; wie aktuell Hofmannsthal in dieser Hinsicht ist. Die Regie hat die Chance vertan, das dringlichste Thema unserer Zeit auszuarbeiten.
Von Sturminger klug gewählt dafür wie im Jahr zuvor die hintersinnigen Doppelbesetzungen. Allen voran Valerie Pachner als Buhlschaft und Tod. Das funktioniert deshalb so gut, weil Pachner die Partnerin des Jedermann nicht lasziv spielt, sondern voller Zärtlichkeit. Sie, in signalroter Kleidung, mit Sonnenblumen im Haar, ist eine neckische, fröhliche, lebensbejahende Buhle. Mädchenhaft, jung – sofort ist klar, was den alten Jedermann an ihr reizt. Es ist der Optimismus, die Zuversicht der Jugend. Das Leben. Wenn Pachner dann als das genaue Gegenteil auftritt, als Tod nämlich, und auch diesen Tod mit Zärtlichkeit spielt, fast mitleidig dem armen Tor gegenüber, dem sie schließlich den finalen Kuss aufdrückt, sind das die berührendsten Szenen des Abends.
Michael Maertens gibt einen charmanten Jedermann. Sich seiner männlichen Wirkung gewahr, mit lakonischem Witz, kein Kotzbrocken, sondern einer, der sich ehrlich keiner Schuld bewusst ist. Besonders im Zusammenspiel mit seiner Mutter (stark als eine der wenigen in diesem Egoisten-Haufen, die ein festes Wertegerüst hat: Nicole Heesters) zeigt sich, dass großes Theater keine Mätzchen braucht. Zwei stimmgewaltige Mimen, die auch ohne Mikroports Wirkung erzielt hätten.
Dagegen geht einem Anja Plaschg in ihrer weiteren Rolle als Glaube bald auf die Nerven. Mit dissonantem Gesang begleitet sie Jedermann in den Tod. Das hat selbst er nicht verdient. Sie übrigens auch nicht. Man hat bisher von Plaschg nur Großartiges gehört und gesehen. Umso enttäuschter ist man von deren krudem Auftritt.
Und tatsächlich in seinem Glauben bestärkt: daran, dass dieses Stück beim nächsten Mal bitte einem anderen Mann überantwortet werden sollte. Oder – verrückte Idee! – einer Frau. Es könnte uns noch viel erzählen.
Weitere Vorstellungen
bis 29. August; salzburgerfestspiele.at.