Und dann hat man natürlich wieder kein Taschentuch dabei. Weil man ja auf dem Konzert vom Boss ist, dem harten Hund und Held der arbeitenden Klasse. Die Softies kann man da getrost zu Hause lassen. Denkt man. Dabei kann uns doch keiner so zu Tränen rühren wie Bruce Springsteen mit seinen sentimentalen Geschichten.
Am Sonntagabend im ausverkauften Münchner Olympiastadion ist es seine eigene Geschichte, die selbst gestandenen Rockern im Publikum das Pipi in die Augen treibt. Es ist die erste Ansage nach etwa anderthalb Stunden. Der 73-Jährige erzählt von 1965, als er gerade mal ein halbes Jahr Gitarre spielte. Sein Schulfreund George Theiss lud ihn zu einem Vorspielen ein – in einer Shotgun Shack, einem runtergekommenen Schuppen irgendwo draußen vor der Stadt. Und welch ein Glück: Er bekam den Job. „Es gab unsere Band drei Jahre“, ruft Springsteen in die Menge. „Für einen Teenager ist das ein ganzes Leben.“ Ein halbes Jahrhundert später – so lange, wie seine eigene E Street Band nun schon existiert – steht er an Georges Sterbebett, und es wird ihm klar: Er ist der letzte Überlebende der jungen Kerls von damals – und bevor er das Lied „Last Man standing“ anstimmt, spricht er noch von lauen Sommertagen, von Gleisen, die sich trennen, vom Schicksal, das dem einen ein lukratives Leben beschert, dem anderen Lungenkrebs. Er schließt: „Seid gut zu denen, die Ihr liebt und gut zu der Welt, in der wir leben.“
Und in den frenetischen Jubel mischt sich die Gewissheit, dass eigentlich all seine Lieder über die kleinen Lieben und Leidenschaften und das große Hamsterrad von ihm selbst handeln. Und genauso von uns. New Jersey oder Neuherberg, es ist überall das Gleiche.
Um 19 Uhr betritt der Boss das Rund mit einem herzhaften „Grüß Gott!“ – und einem Statement. Steven Van Zandt, sein erster Gitarrist und Zeremonienmeister, zieht sich seinen mit Federn geschmückten Hut vom Kopf – und greift in die Saiten einer gelb-blau lackierten Gitarre. Die Band eröffnet mit „No Surrender“. Keine Kapitulation, eine Solidaritätsadresse an die Ukraine.
Eigentlich gilt das Motto vom nicht klein beigeben natürlich wieder uns allen, und das Publikum ist denn auch sofort voll da. Genau wie Springsteen im schwarzen Kurzarmshirt, der schwitzt und kämpft, der sein eigentlich doch so onkeliges Robert-De-Niro-Gesicht vor Pein verzerrt zu einer Visage, die so mitgenommen aussieht, wie seine runtergerockte Telecaster. „Prove it all Night“, „Promised Land“, „The River“: Die E Street Band mit Jake Clemons, Neffe und Nachfolger des legendären Hünen Clarence am Saxofon – läuft wie eine gut geölte Maschine.
Natürlich gibt es an so einem langen Abend auch mal Momente, die man zum Bierholen nutzen kann – aber es sind nicht viele. Besonders die Coverversionen „Night Shift“ von den Commodores und „Trapped“ von Jimmy Cliff vom jüngsten Soul-Album sorgen im Mittelteil für Stimmung, bei „Johnny 99“ marschiert die Band vor die Bühne und schaut sich die selbstgemalten Schilder der Fans an. Ganz besonders süß: ein kleines Mädchen, das geschrieben hat „Bruce, sing with me, i wanna sing with you“.
Dann kommt die Geschichte vom „Last Man standing“, und als die Tränen getrocknet sind, verwandelt sich das Stadion in ein Tollhaus, in dem Dauerparty herrscht. In „Because the Night“ spielt Nils Lofgren ein so schwindelerregendes Solo, als wolle er kurz in Erinnerung rufen, dass er der beste Gitarrist der Band ist. Bei „Badlands“ geht dann das Flutlicht für den Rest der Show an, was für spektakuläre Aussichten sorgt – die Menge wogt zu „Born to Run“ wie ein Weizenfeld. Am Ende, bei „Tenth Avenue Freeze-Out“, gibt Springsteen dem kleinen Mädchen endlich ein Autogramm, und dann hört er gar nicht mehr auf, es zu herzen, während im Hintergrund Bilder der verstorbenen Bandmitglieder Danny Federici und Clarence Clemons auf der Leinwand zu sehen sind. Sein eigenes Shirt lässt der Boss durch das Anspannen seiner immer noch imposanten Muskeln noch einmal spektakulär aufplatzen – aber wie lange wird das noch funktionieren? Die große Party heute, sie steht auch im Zeichen unser aller Vergänglichkeit.
„Wir lieben Euch“, ruft er, bevor er die begeisterte Menge mit „I’ll see you in my Dreams“ nach Hause schickt. Seine letzte Botschaft: Der Tod ist nicht das Ende. Tja, hätte man mal Taschentücher dabeigehabt.