Popmusiker müssen sich Mitte der Sechzigerjahre viele dämliche Fragen von Journalisten anhören. Eine der gescheiteren stellt eine Reporterin 1965 Mick Jagger. Sie will wissen, wie viel von seinem wilden Gebaren als Chef der Böse-Buben-Band Rolling Stones Schauspielerei sei. „Alles davon ist Schauspielerei“, erklärt der kecke Sänger. „Aber das heißt ja nicht, dass man nicht mit dem Herzen dabei ist.“
Das Image ist so wichtig wie die Kunst, das weiß er schon damals. In den Sechzigern sind sein Aussehen – die großen Lippen, der Knackpo, die lässigen, bei James Brown abgeschauten Tanzschritte – und seine Stimme das Synonym jugendlicher Revolte. Heute wird Mick Jagger 80 Jahre jung, und zur Kunst und dem Image hat sich längst das Geschäft gesellt. In die Karten schauen lässt er sich freilich immer noch nicht. „Mick Jagger gehört zu den berühmtesten Menschen der Welt, aber wer ist er wirklich?“, fragte einst die „Vanity Fair“. „Weiß er es überhaupt selbst?“
Wir dürfen davon ausgehen, dass er es weiß. Die Welt muss sich damit zufriedengeben, was er ihr zeigt: den stets charmanten, ewig fitten Vorsteher der berühmtesten Rockband der Welt. Wer die Rolling Stones vergangenes Jahr – erstmals nach dem Tod von Schlagzeuger Charlie Watts – im Münchner Olympiastadion erlebte, sah den betagten Zampano in gewohnter Manier umhergockeln wie ein Springteufel. Das Lotterleben mag tiefe Furchen ins Antlitz gegraben haben – trotzdem erkennt man immer noch, warum Mütter ihre Töchter einst einsperrten, wenn dieser Typ in der Stadt war.
Michael Philip Jagger wird angeblich nur deshalb im Londoner Vorort Dartford geboren, weil es seine Eltern 1943 während der deutschen Luftangriffe nicht nach London geschafft haben. Man meint, die Bomber und Sirenen noch im Song „Jumping Jack Flash“ zu hören: „I was born in a cross-fire hurricane“, singt Jagger da. Als er auf den Plan tritt, den Beruf des Rockstars zu erfinden, regieren im muffigen Nachkriegsengland Armut und das Gebot der Mäßigung. Doch der junge Mick macht sich daran, an den Grundfesten britischer Spießigkeit zu rütteln. So kann der Megahit „(I Can’t Get No) Satisfaction“ nur als Anstachelung zum jugendlichen Aufruhr verstanden werden, der sich dann in „Street Fighting Man“ spiegelt. In „Sympathy for the Devil“ schlüpft Jagger gar in die Rolle Luzifers.
Das Model Chrissie Swinton erzählt später, wie ihr Lebensgefährte mit Gemüse beworfen wurde, weil er mit seinen flamboyanten Klamotten, dem Make-up und dem wissenden Grinsen aussah wie ein Außerirdischer. Die Münchner Kommunardin Uschi Obermaier, eine von unzähligen Affären, erinnert sich: „Das erste Mal, als Mick bei mir in München war und wir miteinander schliefen, wachte ich vor lauter Aufregung früher auf: Oh, da liegt Mick Jagger! Es war ein eigenartiges Gefühl. Mick Jagger – ein Mensch.“
Selbst in Zeiten, in denen das Image seiner Band überlebensgroß wird und sie knietief im Drogensumpf watet, bewahrt sich Jagger den Überblick. Der Ex-BWL-Student ist der Einzige der Gruppe, der in Geschäftsmeetings aufpasst. Während es die Beatles im Streit ums Geld zerlegt, reißt der 27-Jährige 1971 die Zügel an sich, als sich die Stones von ihrem Manager trennen. Er drängt die Band, nach Frankreich zu ziehen, um Steuern zu sparen. Er macht die Stones zur Marke, die noch 50 Jahre später zieht. Man gründet eine eigene Plattenfirma, ihr Zeichen: eine herausgestreckte Zunge.
Jagger ist jetzt nicht nur Texter, Sänger, Frontmann, er übernimmt die Rolle des CEO eines Multimillionen-Dollar-Unternehmens. Der „Leiter und Organisator“, wie sein späterer Kollege Ronnie Wood es ausdrückt. Mag sein Songwriting-Partner Keith Richards noch so sehr eintauchen ins Rockstar-Dasein – Jagger riskiert bei Wein, Weib und Gesang nie zu viel. Er ist das Hirn der Stones, Richards das Herz.
Vielleicht waren die Rollen in der Grundschule schon verteilt. Richards, heißt es, habe Cowboy werden wollen, Jagger habe sich einen roten Sportwagen erträumt. Als sie sich Jahre später auf Bahnsteig zwei des Bahnhofs von Dartford wiederbegegneten, hatte Lehrersohn Jagger Blues-Platten unterm Arm. Man kam ins Gespräch – und das nach Lennon/McCartney zweitwichtigste Songwriting-Gespann in der Geschichte der Popmusik war geboren: die Glimmer Twins.
In dem Maß, in dem sich die Boulevardmedien dafür interessieren, ob Jagger nun Bryan Ferry dessen Freundin Terry Hall ausgespannt hat, werden die Alben der Stones weniger aufregend. Das letzte durchweg brillante Werk, „Some Girls“, wird heuer auch schon 45. Doch bewahren die Stones ihr Erbe vor allem mit fantastischen Liveauftritten, die nicht zuletzt von Jaggers Agilität leben. Kick-Boxen, Pilates, dynamisches Dehnen, Jogging – Jagger: „Ich brauche zwei Monate, um für eine Tour in Form zu kommen.“ Von seinem hagelbuchernen Buddy Keith erntet er für seine Eitelkeit freilich nur Spott – auch wenn der weiß, was er an ihm hat: „Mick Jagger ist Mick Jagger. Er ist der beste Frontmann in der Branche.“
Überhaupt sind die Scharmützel zwischen den beiden Legende. Vor sieben Jahren bezeichnete Richards den achtfachen Vater, fünffachen Großvater und einfachen Uropa Jagger wegen dessen erneuter Vaterschaft als „geilen alten Bastard“ und empfahl ihm eine Vasektomie.
Eine Autobiografie von Mick Jagger gibt es nicht: „Ich will nicht enden wie ein alter Fußballer, der im Pub erzählt, wie er 1964 im Finale die entscheidende Flanke geschlagen hat.“ Immerhin gilt ein neues Rolling Stones-Album als sehr wahrscheinlich. Und die Tour im vergangenen Jahr war nicht als Abschied deklariert. So wird Mick Jagger also auch mit über 80 das tun, was er am besten kann: „Ich schätze, es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass sich die Leute zwei Stunden lang gut fühlen.“ Schön, wenn man in eine Rolle schlüpfen kann, an der das Herz hängt.
Zu Jaggers 80. Geburtstag
erscheint „Forty Licks“ erneut als CD und LP bei Universal Music.
Der ehemalige BWL-Student behält gern den Überblick
Jagger ist Texter, Sänger, Frontmann – und Stones-CEO