Die Älteren unter uns könnten davon schwärmen, aber es gibt sie ja kaum noch. „Parsifal“ im Neu- und Nachkriegs-Bayreuth anno 1951, das muss ähnlich ausgesehen haben. Mit tollen Lichtstimmungen, mit Wieland Wagners legendärer Bühnenscheibe, vor allem aber mit eingefrorenen bis würdig schreitenden Figuren, auf denen das Auge ruhen und denen man beim singenden Denken lauschen durfte. So wie in der aktuellen Ausgabe des „Bühnenweihfestspiels“, wenn Georg Zeppenfeld die knorrig-schlanke Stimme erhebt. Einer unserer größten Bassisten singt zwar in der Premiere leicht gebremst. Doch als Gurnemanz wieder so textglasklar, so reflektiert, so perfekt Wort und Melodielinie verschmelzend, dabei so natürlich, als ereigne sich Richard Wagners letztes Werk wirklich zum allerersten, erstaunlichen Mal.
Doch deshalb ist kaum einer gekommen. Zumindest nicht die 330 Auserwählten, die (abgesehen von Medien und Politik) den Preisaufschlag für die „Augmented-Reality-Brille“ zahlen wollten. Was bei Videospielen oder in der Architektur längst Standard ist, sollte Bayreuth in eine neue Zeit katapultieren. Doch die, so das Ergebnis zumindest dieser Festspiel-Eröffnung, ist denk- und greifbar, aber noch längst nicht angebrochen.
Reales Bühnengeschehen und dreidimensionale digitale Elemente zu überblenden, das müsste doch gerade beim „Parsifal“ funktionieren, der im gemächlichen Puls und rätselhaft raunend Türen öffnet zu Spirituellem, Erotischem, Unbewusstem, auch zu Beunruhigendem. Insofern hat Regisseur Jay Scheib, der mit seinem (Computer-) Team unendlich viel Vorarbeit geleistet haben muss, exakt das richtige Stück erwischt.
Tatsächlich gibt es viel zu schauen. Glühwürmchentreiben, Funkenflüge, sprießende Blumen in Klingsors Zaubergarten nebst springenden Lämmchen, aber auch abgetrennte Arme oder Hände, aus denen Wasser spritzt. Als der Titelheld den Schwan abschießt, flattern ein halbes Dutzend Exemplare bluttriefend durchs digitale Geschehen. Immer wieder geistern abstrakte Formen am Auge vorbei, im Schlussakt ist es – Achtung, Gesellschaftskritik – mal Plastikmüll, mal ein Handgranaten-Schwarm.
Wer möchte, kann versonnen einen Mond betrachten oder eine lockende Grafik-Frau neben sich. Am Ende schwebt die heilige Taube im Strahlenglanz durchs Haus, ganz wie von Richard selig einst erträumt. Und ziemlich bald dämmert’s einem: Das ist keine Zusatzebene, kein neuer, übers „echte“ Geschehen hinausweisender Aspekt, das bleibt Illustration, vage Kommentierung und damit visuelles Glutamat. Und manchmal so überfordernd in seiner Fülle und so enervierend in seinen Wiederholungen, dass man dringend Erholung braucht. Also: Brille runter.
Zu allem Überfluss gibt es noch eine weitere Schau-Ebene. Auf großer Leinwand laufen Live-Videos à la Castorf, minutenlang ist da etwa die Pflege von Amfortas’ offener Wunde zu verfolgen. Was Jay Scheib vorschwebt, ist ein zivilisationskritischer „Parsifal“. Doch der entfaltet hier nur begrenzte Wirkung – als vorsichtiges, fast höfliches Fingerzeigen. Im Schlussakt dominiert eine Raupe das Bild. Erst wer das Programmheft liest, erfährt, dass die Regie auf den naturgefährdenden Abbau von „Seltenen Erden“ zielt – jene Metalle, die in der Elektronikindustrie gebraucht werden. Als Parsifal am Ende den Gral zerdeppert, der offenbar aus solchen Verbindungen gefertigt wurde, ist das ein bemühtes Signal an (uns) alle: So geht’s nicht weiter. Klimakleber und sonstige Aktivisten, vor denen sich die oberfränkischen Behörden vor der Premiere mit riesigem Polizeiaufgebot gruselten, hätten darüber gelächelt.
Verräterisch ist, wo Scheib mit seiner digitalen Offensive kapituliert. Ausgerechnet zu den Grals-Enthüllungen oder den Verwandlungsmusiken (bei denen einst Christoph Schlingensief am selben Ort mit Videos das Dunkle, Abgründige, Verheerende der Musik andeutete) fällt der Regie nicht mehr ein als kleine optische Garnierungen. Wer die Brille trägt, fühlt sich außerdem ferngerückt von der Bühne. Als ob da noch eine imaginäre vierte bis fünfte Wand existiert, die ein Eintauchen ins Stück verhindert. Und manchmal auch ein intensives Zuhören.
Dirigent Pablo Heras-Casado lässt bei seinem Hügel-Debüt schon eine aparte eigene Handschrift spüren. Er ist mit dem Festspielorchester flott und wendig unterwegs. Man hört Schärfungen, Mittelstimmenarbeit, ein rhythmisches Profil, nichts Erdenschweres. Und dann gibt es immer wieder Verbremsungen, eine Lust am Sich-Verlieren in Klanglandschaften, etwa im Vorspiel oder im Amfortas-Monolog. Eine schlüssige Tempo-Architektur ist das noch nicht, aber ein bemerkenswerter Ansatz.
Solistisch ist dieser „Parsifal“ nahe am zurzeit möglichen Nonplusultra. Andreas Schager in der Titelrolle, sonst auf flächendeckende Publikumsbeschallung geeicht, entdeckt viel Lyrisches und Verhaltenes. Derek Welton singt einen jugendlich-virilen, nie zu weinerlichen Amfortas mit Wotan-Prognose. Jordan Shanahan gerät als agiler Klingsor nicht ins vokale Grimassieren. Und Elina Garanča vollbringt bei ihrem Bayreuth-Debüt als Kundry Ungewöhnliches: Sie singt die Partie tatsächlich. Nichts tritt stimmlich über die Ufer, alles ist selbst in extremen Tonspreizungen kontrolliert, eine lyrisch empfundene Deutung, die klug und wie selbstverständlich ins Dramatische geweitet wird. Dass Elina Garanča (die in den Folgeaufführungen mit Ekaterina Gubanova alterniert) den letzten, prestigeträchtigsten Solo-Vorhang bekommt, ist in Bayreuth unüblich bei dieser Partie – und, so lästert mancher, vielleicht Teil ihres Star-Vertrags.
Abgesehen von Pflicht-Buhs gegen Jay Scheib (nicht unbedingt aus der Ecke mit den AR-Brillenträgern) ist das eine heftig betrampelte und bejubelte Premiere. Ausgerechnet dieser „Parsifal“, vor dem nicht nur die orthodoxen Wagnerianer warnten, wird zum phonstärksten Publikumserfolg der jüngeren Zeit – weil sich das brillenlose Gros der Gala-Gemeinde mit dem analogen Schreit- und Stehtheater in wohligen alten Zeiten glaubt. Es ist die größte Pointe des Abends.
Weitere Aufführungen
am 30. Juli sowie 12., 15., 19., 23. und 27. August; Restkarten eventuell unter bayreuther-festspiele.de.