Ein Hauch von Freiheit

von Redaktion

„an imperfect utopia“ an den Münchner Kammerspielen

VON ULRIKE FRICK

Am Ende stehen sie gemeinsam auf der Bühne, Publikum und Schauspieler, glücklich, erleichtert und begeistert. Richtig gelesen, auf der Bühne des Schauspielhauses. Denn nahezu der gesamte Abend findet direkt auf den Brettern der Münchner Kammerspiele statt. Die Zuschauer gruppieren sich auf Bänken, Hockern oder Sitzbällen rund um einen Boxring. In diesem findet sie statt, die große Schlacht der Lebenslügen. In immer neuen, unterschiedlichen Lebensentwürfen nähern sich die Schauspieler dem an, was es bedeutet, anders zu sein und sich jenseits der hetero- und allonormativen Gesellschaft einzurichten.

Lesbisch in Nevada oder Kalifornien, homosexuell in Berlin oder in einem kleinen polnischen Dorf – in ihren organisch zwischen die Tanz- und Musikeinlagen gestreuten Monologen reißen Stefan Merki, Edith Saldanha, Tomasz Tyndyk, Justyna Wasilewska und die Musikerin Trace Polly Müller viele nur schlecht verheilte Wunden auf. Die Frage „Ist eine queere Utopie ein Ort für alle?“ schwebt über der neonbunten Show, wie die riesigen Quallenlampen, die sich zum Ende hin immer dichter auf die Bühne herabsenken. Schön wär’s, denkt man sich als Antwort auf die Frage oft im Laufe der 90-minütigen Aufführung. Und begreift leider schnell, dass die Gesellschaft noch furchtbar weit davon entfernt ist.

Nicht nur in Polen, wo die Koproduktion zwischen den Kammerspielen und dem TR Warszawa bereits zu sehen war. Regie bei diesem deutsch-polnischen Performance-Projekt „niedoskonala utopia/ an imperfect utopia“ führt die junge, bereits vielfach ausgezeichnete Regisseurin Noémi Ola Berkowitz. Gemeinsam mit Martyna Wawrzyniak hat sie dieses über weite Strecken in Schwarzlicht getauchte Theaterexperiment ersonnen. „Wir sprechen heute Polnisch, Englisch, Deutsch und ein bisschen Seepferdchen-Sprache. Aber man muss ja auch nicht alles verstehen“, erklärt Stefan Merki anfangs verschmitzt. Recht hat der Mann. Denn Berkowitz setzt stark auf Farben, auf Kontraste, auf einprägsame Bilder und spricht damit alle Sinne an.

In einem exklusiven Kreis von nur 75 Zuschauern – mehr passen nicht neben Bartresen, Bänken und Boxring auf die Bühne – lässt man sich von dem überwältigen, was Bühnenbildnerin Mirjam Pleines und Kostümbildner Florian Buder zu einem explosiven Farbenrausch komponiert haben.

Schon bald ist klar, dass alle Texte vom Sich-unfrei-Fühlen queerer Menschen handeln, vom Versteckspielen-Müssen, vom andauernden Bewertet- und Verurteilt-Werden. Wie es sich anfühlt, permanent abschätzigen Blicken ausgesetzt zu sein, lernt man an diesem verzaubert anmutenden Abend ebenso wie die Geschichte der 1892 erstmals veranstalteten Ballroom-Partys und deren Bedeutung für die LGBTQI+Szene. Am Ende hebt sich der Vorhang und das klug akzentuierende Ensemble tanzt zu sphärischen Seepferdchenklängen durch den leeren Zuschauerraum. Ein paar Minuten herrlichster Utopie, schön wie im Traum, ehe es wieder hinaus geht in die verregnete Realität, in der queere Personen nach wie vor im Kino nur den modischen Sidekick des Heteropärchens bilden.

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