Er hat das Rad nicht neu erfunden. Die Bühne als Drehscheibe oder als Konstruktion, die auf andere Weise das Ensemble zur Bewegung herausfordert, das ist inzwischen Ulrich Rasches Markenzeichen. Unvergessen etwa seine Inszenierung von Schillers „Räubern“ 2016 im Münchner Residenztheater, bei der sich die Schauspielerinnen und Schauspieler unentwegt auf meterlangen Laufbändern verausgabten. Nun hat sich der Regisseur für die Salzburger Festspiele einen anderen Klassiker vorgenommen: Lessings „Nathan der Weise“. Dieses große Stück der Aufklärung, uraufgeführt 1783. Was ist der Mensch? Was der rechte Glaube? Wie geht Toleranz, Humanismus, Mitmenschlichkeit? Rund 250 Jahre später kreisen wir noch immer um dieselben Fragen. Bei der Premiere am Freitagabend auf der Perner-Insel in Hallein im wahrsten Sinne des Wortes.
Wieder hat Rasche eine riesige rotierende Bühne installieren lassen. Darauf geht es vier Stunden lang rund (eine Pause). An den Beginn stellt er ein hammerhartes Zitat von Johann Gottlieb Fichte: „Fern sei von meinem Herzen der Gifthauch der Intoleranz! Der Jude, der zu Menschen- und Wahrheitsliebe hindurchdringt, sei mir ein Held und ein Heiliger. Ich weiß nicht, ob es deren gab oder gibt. Ich will es glauben, sobald ich ihn sehe.“ Wenn dann Daja auftritt und den eigentlichen ersten Satz des Dramas ruft („Er ist es! Nathan.“), sind die großen Themen des Werks bereits umrissen. Und gleich wird sie ausgestellt: diese verlogene, an Bedingungen geknüpfte Wenn-dann-Toleranz; tolerare bedeutet im Wortsinne ja nicht mehr als dulden, ertragen. Bejahen, gutheißen, lieben gar? Fehlanzeige bei allen, die hier nur um sich und ihren eigenen Glauben kreisen.
Bis auf: Nathan. Wie sich Valery Tscheplanowa als Einspringerin innerhalb von Wochen die Titelfigur einverleibt hat, wie diese zarte Person scheinbar mühelos zum Zentrum der düster ausgeleuchteten Bühne wird, ist grandios. Dass sie eine Frau ist? Spielt erfrischenderweise keine Rolle, macht keinen Unterschied. Das hätte Lessing gefallen.
Wohl auch Rasches Idee, einzelne Figuren wie eben Daja als Chor auftreten zu lassen. Windschief, krebsartig, robotergleich, wie seelenlos bewegen sich die Chormitglieder über das Bühnenrund. „Was? Ihr kehrt Euch von mir ab? Wollt mich nicht sehn?“, fragt Nathans Tochter Recha einmal den Tempelherrn, der ihr das Leben rettete. Und er: „Weil ich Euch hören will.“ Das wird hier zum Konzept. Fast unentwegt schauen die Spielenden nicht einander, sondern das Publikum an, provozieren ihre Mitspieler und uns zuzuhören. Jedes Wort legt Rasche auf die Drehscheibe, lässt das starke Ensemble den Text – zusätzlich erweitert durch Zitate von Kant, Fichte, Voltaire – im Stakkato sprechen, im Takt der Schritte und der treibenden Musik von Carsten Brocker und Christopher Lübeck (Keyboard), Katelyn King, Spela Mastnak (Percussion) und Thomsen Merkel (Bass, Moog). Es dröhnt, es donnert, es drängt. Und: Es nervt. Viele Plätze sind nach der Pause nicht mehr besetzt.
Zu sehr hat der Regisseur auf sein Erfolgsrezept gebaut. Sich allein auf Drehkraft, Wirkung des Textes und die Präsenz der Protagonisten zu verlassen, das reicht nicht. Statt zu straffen, zieht Rasche alles in die Länge. Das enervierende Rotieren lässt manchen gedanklich wegschweifen. Der erhoffte Sog bleibt aus.
Dabei hätte uns dieses Stück so viel zu sagen. In einer Zeit, in der uns die Religionen mehr und mehr abhanden kommen, wir sie durch Ideologien ersetzen, unaufhörlich Haltung einfordern, unaufhörlich bewerten, kategorisieren, in Schubladen stecken, lohnt die Erinnerung an Lessings Nathan. Während alle anderen auseinanderdriften, überwindet er die Abstände, geht gegen die Drehrichtung auf sein Gegenüber zu. In der zeitlos wahren Ringparabel ruft er es uns zu: „Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!“ Da richten sich die grellen Scheinwerfer auf die Zuschauenden. Alles klar, verstanden, wir sind gemeint. Ein bisschen viel Effekthascherei, ein bisschen wenig sonstige Einfälle. Keine runde Sache.
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heute, 2., 3., 5., 7,. 9., 11. und 12. August.