Männer und Menschen

von Redaktion

Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk feiert in „Empusion“ fließende Identitäten

VON MICHAEL SCHLEICHER

Bevor er den Trinker ausknipst, entfaltet dieser Likör eine erstaunliche Wirkung: Wohlschmeckend ist er, belebt und befeuert Körper, Geist, Seele. Ein Traum im Glas also, der zudem den schönen Namen „Schwärmerei“ trägt – dieser Alkohol ist der Kleb- und Treibstoff im „Gästehaus für Herren“ im niederschlesischen Görbersdorf am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Inmitten von Wäldern und Bergen steht hier das Sanatorium für Lungenkranke – unweit davon sind die Patienten in der Pension von Wilhelm Opitz untergebracht. Sie debattieren über Gott (selten), die Welt (häufiger) sowie besonders gerne und intensiv über jene, die gar nicht anwesend sind: die Frauen. Na dann, Prost!

Ja, Olga Tokarczuk lässt ihren Roman „Empusion“ in einer Szenerie spielen, die an Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) erinnert. Erzählerisch spiegelt die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2018 das Werk des Nobelpreisträgers von 1929. Dramaturgisch und inhaltlich geht die polnische Autorin einen neuen Weg und verhandelt in ihrer „natur(un)heilkundlichen Schauergeschichte“ Fragen der (Geschlechter-)Identität ebenso, wie sie den Frauenhass einer von Männern dominierten Gesellschaft bloßstellt. Das mag zwanghaft „up to date“ klingen, doch die 61-Jährige ist eine im besten Sinne altmodische Erzählerin und eine Stilistin, deren Schreiben der Zeit enthoben ist.

Sie schickt Mieczyslaw Wojnicz nach Görbersdorf. Rasch wird klar, dass den Lemberger Studenten der Wasser- und Kanalisationsbautechnik viel Mächtigeres quält als eine lädierte Lunge. Für die Laune der Natur, die seinen Körper den gängigen Normen enthebt, gibt es 1913 weder Worte noch Verständnis. Wojnicz ist getrieben vom Gefühl, sich verstecken zu müssen. Das freilich ist schwierig im Gästehaus; erst recht, wenn „Schwärmerei“ in die Gläser kommt.

Mit leisem Humor gestaltet Tokarczuk die Patienten, die weltanschaulich aus unterschiedlichen Ecken kommen. Da sind der Katholik Longinus Lukas, der Sozialist August August, der Theosoph Walter Frommer und viele weitere Herren, die nur eines eint: ihr Frauenbild. Von diesem berichtet die Schriftstellerin mit einem besonderen Kniff. Die Thesen, die sie ihren Figuren in den Mund legt, gründen in Texten von Denkern und Autoren aus diversen Epochen der Geistesgeschichte, von Augustinus über Plato, Freud, Nietzsche, Pound, Racine, Sartre und Strindberg bis hin zu Schopenhauer, Wagner, Wedekind sowie Thomas von Aquin. Im Nachgang ihres Buchs listet sie dieses entlarvende Who’s who auf.

Die Abhandlung des (intellektuellen) Frauenhasses liest sich so erschreckend wie skurril und unterhaltsam. Sie bildet eine Ebene dieses Romans, dessen Titel sich zusammensetzt aus dem Begriff „Symposium“, also dem geselligen Umtrunk, und „Empusa“, einem weiblichen Spukwesen der griechischen Mythologie. Denn dies ist die zweite Ebene: Tokarczuk erzählt ein herrliches Schauermärchen, genauer: Die Gestalten aus dem Zwischenreich, die sich nicht nur in den Wäldern um Görbersdorf tummeln, beanspruchen die Autorenschaft dieser Geschichte für sich.

In deren Zentrum freilich steht das Schicksal der Hauptfigur. „Empusion“ ist also auch ein Entwicklungsroman und zeichnet Wojnicz’ Wandlung nach. Der erhält schließlich vom Arzt der Anstalt, der den wunderbaren Namen Doktor Semperweiß trägt, den Rat, sich seine „eigene Fiktion zu schaffen, zum Beispiel die, dass Sie vollkommen sind, so wie Sie sind“. Darauf ein Glas „Schwärmerei“!

Olga Tokarczuk:

„Empusion“. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein. Kampa Verlag, Zürich, 384 Seiten; 26 Euro.

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