In der Ermittlungsakte der Polizei finden sich nur ein paar dürre Sätze über den letzten Tag im Leben des Wolfgang Herrndorf. Am 26. August 2013 wurde er tot von einer Bekannten aufgefunden. „Man sei zu dritt an das Nordufer in Berlin-Wedding gegangen und habe dort zunächst eine Weile verbracht. Die Bekannten des Betroffenen wollten dann zu einem Lokal gehen. Der nunmehr Verstorbene wollte etwas später nachkommen. Als er nicht am Treffpunkt auftauchte, sei die Bekannte mit dem Fahrrad zurück zum Nordufer gefahren. Dort habe sie den Betroffenen tot vorgefunden.“
Hinter diesen knappen Worten versteckt sich eine Tragödie, die der Journalist Tobias Rüther in seiner akribisch recherchierten Biografie über Herrndorf zehn Jahre nach dessen Tod umfassend ausleuchtet. Im viel zu kurzen Leben des Schriftstellers und Künstlers fielen der größte berufliche Erfolg und die erschütternde Diagnose eines unheilbaren Gehirntumors auf schreckliche Weise zusammen. Denn als der damals 44-Jährige im Frühjahr 2010 nach Wochen voller Kopfschmerzen, Anfällen und Notaufnahme-Besuchen die Diagnose eines Glioblastoms erfährt, befindet sich sein Jugendroman „Tschick“ gerade auf einer zaghaften Erfolgskurve.
Von seinen ersten veröffentlichten Werken, darunter der Roman „In Plüschgewittern“ sowie der Kurzgeschichtenband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“, konnte Herrndorf nicht leben: „Seine Einnahmen aus freiberuflicher Arbeit im Jahr 2009 betragen 1260 Euro“, ermittelte der penible Rüther.
Bei der Kritik kamen Herrndorfs Texte zwar gut an. Ein breites Publikum interessierte sich allerdings noch nicht für den ehemaligen Maler von der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Haupteinnahmequellen für das bescheidene Leben im Einzimmerapartment in Berlin-Mitte mit Doseneintopf und Bier waren Buch-Illustrationen sowie Zeichnungen und Comics für die Satirezeitschrift „Titanic“. Deren legendärer Kohl-Kalender stammte beispielsweise auch aus Herrndorfs Feder. Dazwischen sitzt er an mehreren Manuskripten gleichzeitig, „sie wachsen im Umfang immer weiter, aber keines nähert sich wirklich einer Vollendung: Herrndorf bohrt sich stattdessen immer tiefer in seine Texte hinein.“
Die Krankheit beschleunigt seine Arbeitsprozesse. Geradezu manisch schreibt er gegen den Tod an. Er will erst einmal nicht aufgeben. Er hofft und rettet sich ins Schreiben. Der Roman „Tschick“, der Herrndorf schließlich große Popularität verschafft, erscheint noch Ende des Jahres 2010. Die kunstvoll gewobene Spionagegeschichte „Sand“ folgt 2011. Auch dieses Buch sticht mit seinem ganz eigenen, brüchigen Sound, der „verständnisvollen Ironie“ (Rüther) und dem besonderen melancholischen Sprachwitz aus der Fülle junger Autoren jener Jahre heraus. Über seine Krebserkrankung und die Entscheidung, sich das Leben nehmen zu wollen, solange er dazu noch imstande wäre, schreibt er in seinem Blog. Mit einer sich stetig vergrößernden Öffentlichkeit teilt er darin das eigene Sterben. Mit großer Nüchternheit, niemals larmoyant oder wütend, registriert er die Veränderungen an sich, erinnert sich an seine Kindheit, an unerfüllte Lieben, an Bücher und Musik. Er sucht in der Literatur nach Trost, urteilt dabei auch über eigene Texte vielfach erbarmungslos und verabschiedet sich von seinen Freunden. Postum wird dieses bewegende und kluge Internet-Tagebuch unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ veröffentlicht.
Tobias Rüther nähert sich in seiner elegant geschriebenen Rückschau dem Objekt seiner Neugierde respektvoll, mit hoher Empathie. Sehr genau und erstaunlich detailliert zeichnet er das Leben Herrndorfs nach. Angefangen bei der behüteten Kindheit des zurückhaltenden Jungen über das Kunststudium in Nürnberg und seine Begeisterung für Dürer und Vermeer bis hin zur Schriftsteller-Laufbahn in Berlin.
Aus unzähligen bislang unbekannten Dokumenten und den Aussagen von Freunden, Angehörigen, Kollegen und Weggefährten entsteht das anrührende Porträt eines sehr besonderen Menschen, dem Selbstbestimmung bis zum letzten Atemzug über alles ging. Die „Raumforderung“, wie die Mediziner das ausdrückten, hat viel Macht. Herrndorf will ihr nicht das große Finale überlassen. Rüther schreibt: „Es war vermutlich einer der letzten Abende, die Wolfgang Herrndorf dafür noch blieben, sagen jene, die ihn in diesen Tagen erlebt haben“, über seinen Freitod nahe des Strandbads Plötzensee. Begraben wird er mit dem T-Shirt, das ihm eine Freundin schenkte und das bedruckt ist mit Herrndorfs häufig geäußertem Lieblingssatz: „Ich mache keine Fehler.“ Das muss uns Trost genug sein.
Tobias Rüther:
„Herrndorf. Eine Biographie“. Rowohlt Verlag, Berlin, 382 Seiten; 25 Euro.